Schwedens Sonderweg: Aufklärung, Vertrauen, Verantwortung
Die zweite Welle. Das Schreckgespenst vieler Regierungen. In Schweden hat man diese Sorge offenbar nicht. Chefepidemologe Anders Tegnell geht davon aus, dass in Stockholm bis Ende Mai 40 Prozent der Menschen gegen das Virus immun sein werden (momentan gut 30 Prozent).
„Im Herbst wird es eine zweite Welle geben. Schweden wird ein hohes Level an Immunität haben und die Zahl der Fälle wird wohl relativ niedrig bleiben“, sagte Tegnell am Freitag der Financial Times.
Schweden als Experiment
Schweden ist mit seinem „Sonderweg“ ein Stammgast auf den Corona-Seiten der europäischen Medien. Während scheinbar ganz Europa Geschäfte, Lokale und Schulen schließt, setzt Schweden auf Aufklärung und auf die Vernunft der Bevölkerung. „Wir legen viel Verantwortung in die Hände der Individuen“, sagte Tegnell im CNN-Interview. „Bis jetzt hat das auch gut funktioniert. Wir haben eine flache Infektionskurve und unser Gesundheitssystem ist nicht überlastet, auch wenn es eine harte Zeit ist.“ 20 Prozent der Intensivbetten seien immer frei gewesen.
Wer einen Freund treffen will, der darf das, sogar in einem Restaurant. Wer in den vergangenen Wochen zum Friseur musste, der machte sich einen Termin aus. Schulen sind nur für über-16-Jährige (also nicht Betreuungspflichtige) geschlossen, ebenso wie Universitäten.
Verboten sind lediglich Besuche in Altersheimen und Veranstaltungen mit mehr als 50 Personen. Die Menschen sind angehalten, Abstand zu halten, zuhause zu bleiben und dort zu arbeiten.
Erfolgsmeldungen und Schreckensmeldungen aus Schweden wechseln sich in europäischen Medien ab. So kann man an einem Tag lesen, dass der Weg erfolgreich sei, weil die Reproduktionszahl seit Tagen unter 1,0 liege.
Gleichzeitig muss man allerdings auch lesen, dass die Todeszahlen weiter steil bergauf gehen – am Donnerstag wurde die Marke von 3.000 Toten überschritten.
Das sei „entsetzlich“, sagte Tegnell. „Die Todeszahl ist etwas, das uns viel beschäftigt.“ Gegenüber CNN gab der Chefepidemologe zwei Gründe an, dass die Zahlen so viel höher sind, als in den Nachbarländern – wie Kritiker der Regierung immer wieder erwähnen. Einerseits habe es in Schweden insgesamt mehr Infektionen gegeben, andererseits habe man es nicht geschafft, die Altersheime ausreichend zu schützen.
Von 3.000 Menschen sind 90 Prozent über 70, davon die Hälfte haben sich in Pflegeheimen infiziert, sagt Philipp Fink von der Friedrich Ebert Stiftung (FES) in Stockholm.
Die hohe Todeszahl müsse man selbstverständlich analysieren. Der bekannte schwedische Epidemiologe Johan Giesecke geht davon aus, dass im nächsten Jahr die Nachbarn aufholen werden – wegen der geringeren Immunität.
Auf vielen anderen Ebenen sei man in Schweden sehr erfolgreich, rechtfertigt Tegnell sich in Interviews stets ruhig, besonnen und überzeugt. Die Schule besuchen zu können und den Arbeitsplatz zu behalten seien sehr wichtig für die Gesundheit, sagte der Mediziner diese Woche in der „Daily Show“ im US-Fernsehen.
Unter heftiger Kritik von mehreren Wissenschaftlern zog die Gesundheitsbehörde mit Anders Tegnell an der Spitze weiter ihren Weg durch. Und wird dabei von der Bevölkerung breit unterstützt. Rund 70 Prozent der Schweden stehen hinter der Krisenpolitik ihrer Regierung. „Das Vertrauen in den Premier und die Gesundheitsbehörde bleibt trotz der Todeszahlen weiter hoch“, sagt Fink von der Friedrich Ebert Stiftung zum KURIER.
Die rot-grüne Minderheitsregierung stand vor der Corona-Krise einer stark polarisierten Gesellschaft gegenüber. "Quasi die gesamte Politik war darauf ausgelegt", sagt Fink. Doch das sei mit ihrer Krisenpolitik so gut wie weggefallen. Während die regierenden Sozialdemokraten zuvor knapp hinter den rechtspopulistischen Schwedendemokraten lagen, sind sie mittlerweile mit Abstand die beliebteste Partei. Die Rechten sind stark abgefallen.
Wirtschaft stark getroffen
Doch trotz der liberalen Krisenpolitik leidet auch in Schweden die Wirtschaft massiv. Für ein exportorientiertes Land ist das wenig überraschend. Bis Ende des Jahres könnten mehr als zehn Prozent der Schweden ohne Arbeit dastehen, das BIP um rund 9 Prozent sinken. Die Regierung hilft momentan mit rund 10 Milliarden Euro.
Schweden kann sich das Experiment mit dem Sonderweg vor allem aus einem Grund leisten: wegen der Belastbarkeit seines Gesundheitssystems und dem Vertrauen der Bevölkerung in dieses.
Vorbild oder nicht? Tegnell bleibt weiter entspannt: „Das Wichtigste ist, dass die Strategie daran angepasst wird, wie das jeweilige Land funktioniert.“ Schweden habe jene Werkzeuge angewandt, die es immer anwendet, deshalb funktioniere es einigermaßen gut.
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