Dabei hatte es doch lange geheißen, eine Frau solle dem abtretenden NATO-Generalsekretär Jens Stoltenberg nachfolgen. Um Ursula von der Leyen hatten sich die Gerüchte ebenso gedreht wie um die estnische Ministerpräsidentin Kaja Kallas.
Doch die EU-Kommissionspräsidentin will an der Spitze der europäischen Behörde bleiben und Kallas gilt in Richtung Russland als recht ruppige Hardlinerin. Die unerschrockene, junge Estin als NATO-Chefin – das könnte Moskau als Provokation empfinden, lauteten die Bedenken. Stattdessen dürfte Kallas nun Chancen auf das Amt der EU-Außenbeauftragen haben.
Der Pragmatiker
Doch der 57-jährige Mark Rutte ist weit mehr als ein Ersatzkandidat für die NATO-Spitze. Der frühere Manager beim Lebensmittelkonzern Unilever gilt als unendlich geschickter realpolitischer Pragmatiker: „Jovial, meist fröhlich und geduldig gegenüber seinen politischen Gegnern“ schildert ihn sein berufliches Umfeld. „Wie anders hätte er sich 13 Jahre lang an der Spitze der niederländischen Regierung mit ihren Vielparteienkoalitionen halten können?“, fragt ein ihm bekannter Diplomat.
Andere sagen auch: Rutte sei vielmehr „schmerzbefreit“. Einer, der eben so gut mit allen könne, weil er nichts an sich heran- aber auch alles an sich abperlen lasse.
„Teflon-Mark“ lautet der Spitzname des 57-jährigen eingefleischten Junggesellen. Oder auch der „Houdini der niederländischen Politik“ – frei nach Harry Houdini, jenem amerikanischen Entfesselungskünstler, dem es gelang, sich aus jeder noch so verzwickten Lage herauszuwinden.
Skandalfrei
Kein Skandal blieb an Mark Rutte haften. Während andere Minister reihenweise zurücktreten mussten, etwa, weil der niederländische Staat Tausende Familien zu widerrechtlichen, hohen Strafen verdonnert hatte, kam Rutte fast ohne Kratzer davon.
Ein Mann ohne Eigenschaften?
Sorgsam pflegte er sein Image als nahbarer Politiker. Einer, der ohne Blaulicht und Leibwächter durch Den Haag radelt und einmal pro Woche in einer Schule unterrichtet. So gut wie gar nichts ist hingegen über den privaten Mark Rutte bekannt. Keine Affären, keine Skandale, keine Aufregungen, keine Urlaubsbilder.
Überraschender Rückzug
Beruflich jedoch bescheinigen ihm seine Mitarbeiter: „Er ist Politiker mit Leib und Seele“. Deshalb wollten viele Niederländer so gar nicht glauben, was der liberal-konservative Premier vergangenen Sommer urplötzlich verkündet hatte: Er werde sich aus der Politik zurückziehen.
Schon damals, so wird gemunkelt, habe Rutte wohl gewusst, dass seine Chancen auf den Top-Job in der NATO bestens stünden. Und das nicht nur, weil die Niederländer, die eingefleischtesten Transatlantiker in der EU, ohnehin ein Naheverhältnis zur NATO haben: Rutte wäre bereits der vierte niederländische Generalsekretär des Bündnisses – kein anderes NATO-Mitglied hat in der 75-jährigen Geschichte so viele Chefs gestellt.
Kaputt gespart
Zwar hat auch der stets auf sparsame Staatsausgaben bedachte Premier die Armee seines Landes geschrumpft und arm gespart. Im Vorjahr lagen die Verteidigungsausgaben der Niederlande bei 1,7 Prozent seines BIP. Erst heuer dürfte erstmals wieder die von der NATO vorgegebene 2-Prozent-Marke erreicht werden.
Aber mit Russlands Krieg war der radikale Umschwung gekommen. Als einer der heftigsten Unterstützer der bedrängten Ukraine lieferten die Niederlande schwere Waffen und sagten sogar die Übergabe von F-16-Kampfflugzeugen zu.
Was dem groß gewachsenen Niederländer zusätzlich angerechnet wurde: Er hat einen guten Draht in die USA, immerhin die tonangebende Macht innerhalb der NATO – selbst zu Donald Trump.
Die Hoffnung: Sollte der irrlichternde Ex-US-Präsident wieder ins Weiße Haus einziehen, könnte ihn einer wie Rutte am ehesten zur Räson bringen. Rutte, der Stoiker, soll von der Spitze der NATO aus das Bündnis weiter zusammenhalten.
Große Macht hat ein Generalsekretär im Bündnis nicht – er ist mehr Sekretär als befehlsgebender General. Zudem dürfte ein ruhiger Pragmatiker, von dem noch nie böse Beleidigungen zu hören waren, nicht einmal NATO-Feind Nr.1, Kremlherrn Putin, provozieren.
Dieser Artikel ist ursprünglich am 3. März 2024 erschienen. Weil Ruttes Bestellung zum NATO-Generalsekretär nun feststeht, haben wir ihn überarbeitet und erneut veröffentlicht.
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