Das liegt nicht etwa daran, dass Putins Wahlerfolg gefährdet gewesen wäre. Selbst bei nicht manipulierten Wahlen würde er die absolute Mehrheit erreichen, schätzen Experten. Doch Russland ist nicht mehr das Land, in dem Alexej Nawalny am Leben war und sogar versuchen durfte, offiziell gegen Putin in die Wahl zu ziehen. Der Gesellschaftsvertrag hat sich geändert: Vor dem Krieg hatte er den Russen fast alle Freiheiten gelassen, solange die sich nicht in seine Politik einmischten. Diese erkaufte Apathie sicherte ihm 20 Jahre Herrschaft. Seit er aber seine Machtfantasien der Ukraine übergestülpt hat, hat sich das verschoben: „Das Regime verlangt vom Volk nicht mehr nur Schweigen, sondern Komplizenschaft“, beschreibt es Andrej Kolesnikow von Carnegie Europe. Wer in Russland nicht offensiv für den Krieg ist, macht sich verdächtig.
Erinnerungen an Stalin
Nicht umsonst erinnert das viele Beobachter an die Zeit Stalins. Außenminister Sergej Lawrow hat zuletzt auffallend oft von „Säuberungen“ in der Gesellschaft gesprochen, eine Wortwahl, die aus den blutigen 1930ern stammt. Das zielt auf alle, die angeblich das System unterminieren, weil sie zu „westlich“ sind – wie die „Kosmopoliten“ damals in der Sowjetunion, die Stalin der Destabilisierung beschuldigte.
Heute trifft dieser „neo-stalinistische“ Zorn, wie Kolesnikow ihn nennt, unbequeme Schriftsteller wie Ljudmila Ulizkaja und Boris Akunin. Die beiden, zwei der prominentesten russischen Autoren überhaupt, werden öffentlich diffamiert, und das funktioniert: Dass jetzt im Wahlkampf mehr Prominente für Putin warben als je zuvor, ist nicht nur Gefallsucht, sondern vorauseilender Gehorsam.
Für die Zeit nach der Wahl verheißt das nichts Gutes. Schon davor ließ Putin wissen, dass er den Staatsapparat umbauen will, dass Veteranen an die Schaltstellen der Macht kommen sollen, „Zeit für Helden“ nennt er das. Neben der Kriegswirtschaft errichtet er so eine Kriegsgesellschaft; das hat den Vorteil, dass man traumatisierte Rückkehrer unter Kontrolle hat, damit die keine Schattenarmee bilden können. Dazu wird alles durchmilitarisiert – und der Zustand des Kriegs normalisiert.
Zeitgleich ist es eine Botschaft an die politischen und wirtschaftlichen Eliten, die Putin immer wieder als „gierig“ und zu westorientiert schimpft: Niemand soll sich seines Status mehr sicher sein, jeder ist austausch- und wegsperrbar, wenn Putin es will. „Putinismus“ nennen die Osteuropa-Forscher Michael Kimmage und Maria Lipman dieses Herrschen über Seelen und Körper. Putin habe die Russen so der Fähigkeit beraubt, sich ein Land und eine Zukunft ohne ihn vorzustellen – im Guten wie im Schlechten: Selbst die, die Frieden wollen, glauben, nur Putin könnte ihn bringen.
Der Frieden ist in diesem System jedoch nicht vorgesehen, sagen die Experten. So wie Putin den Wahlsieg in den besetzten Gebieten braucht, um den Krieg zur „Befreiung der Ukrainer“ zu rechtfertigen, braucht er den Krieg selbst, weil der zum Wesenskern seiner Herrschaft geworden ist. Das hat er kürzlich selbst sogar im TV gesagt: Mit der Ukraine zu verhandeln, nur weil der die Munition ausgehe, habe er auf keinen Fall vor . Das sei schlicht: „lächerlich“.
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