Julia Nawalnaja hat Namen ihres Mannes auf Stimmzettel geschrieben
Die von Russlands Machtapparat mit harter Hand organisierte Abstimmung für eine fünfte Amtszeit von Kremlchef Wladimir Putin haben Tausende Gegner des Langzeitpräsidenten mit einer bemerkenswerten Protestwelle begleitet. Trotz Einschüchterungsversuchen durch Behörden versammelten sich am letzten Wahltag am Sonntag gegen 12.00 Uhr Menschen vor den Wahllokalen. Über 70 Personen wurden festgenommen.
Zu dieser stillen Form des Widerstands, der Aktion "Mittag gegen Putin", hatte die Opposition aufgerufen, damit Kreml- und Kriegsgegner auf ungefährliche Weise ihren Unmut über diese von Kritikern als undemokratisch eingestufte Wahl kundtun können. Trotzdem meldete das Bürgerrechtsportal OVD-Info mindestens 74 Festnahmen - die meisten davon in der Stadt Kasan. Auch Menschen in Moskau und St. Petersburg kamen vorübergehend in Gewahrsam. In St. Petersburg soll eine Aktivistin direkt beim Verlassen ihres Hauses von Sicherheitskräften aufgegriffen worden sein. Manche Menschen werden nach einiger Zeit wieder auf freien Fuß gesetzt.
Feuerwerkskörper in einem Wahllokal gezündet
In der Stadt Perm zündete eine 64-jährige Frau in einem Wahllokal Feuerwerkskörper und verletzte sich dabei selbst schwer. Sie habe die Explosion auf der Toilette des Gebäudes selbst herbeigeführt und sich dabei eine Hand abgerissen, berichtete der Telegram-Kanal "Baza" am Sonntagabend. Die regionalen Behörden bestätigten Medien zufolge einen Notfall in dem Wahllokal und teilten mit, dass die Frau ins Krankenhaus gebracht worden sei.
Vor einem Wahllokal im Zentrum Moskaus am Ukrainski Boulevard war die Anspannung bei der Aktion förmlich greifbar. Die Menschen kamen, obwohl in Russland schon für kleinste Protestaktionen harte Strafen drohen. Moskaus Staatsanwaltschaft hatte ausdrücklich vor einer Teilnahme an dieser Aktion gewarnt und mit strafrechtlicher Verfolgung wegen "Extremismus" gedroht. Nach und nach reihten sich immer mehr Menschen schweigend in die Warteschlange ein, die am Ende bis hinter einen von Polizisten bewachten Zaun reichte.
"Protest zum Ausdruck bringen"
"Wählen", flüsterte eine ältere Frau auf die Frage, warum sie zur Mittagszeit gekommen ist. Mehr wollte die merklich eingeschüchterte Wählerin nicht sagen, ihre Augen füllten sich mit Tränen. Eine 64-Jährige hingegen sagte deutlich: "Wir wollen unseren Protest zum Ausdruck bringen - gegen den Krieg, gegen das Regime, gegen all das."
Auch der von der Präsidentenwahl ausgeschlossene Oppositionspolitiker Boris Nadeschdin beteiligte sich an der friedlichen Protestaktion "Mittag gegen Putin". Im Moskauer Institut für Physik und Technik, wo ein Wahllokal ist, wurde er mit großem Applaus von Studenten empfangen, wie ein von ihm am Sonntag bei Telegram veröffentlichtes Video zeigt. "Ich denke, ihr werdet noch die Chance haben, für mich zu stimmen", sagte er den Versammelten. Er kündigte die Veröffentlichung eigener Nachwahlbefragungen nach Schließung der Wahllokale an. Deren Ergebnisse unterschieden sich stark von dem, was die Obrigkeit erwartet habe, sagte er.
Im Südosten Moskaus brachten unterdessen Menschen Blumen an das Grab des populären Putin-Gegners Alexej Nawalny, der vor einem Monat in einem russischen Straflager starb und der einst selbst Präsidentschaftskandidat werden wollte.
Auch in Wien gab es stillen und lauten Protest vor der russischen Botschaft. Der größte Ansturm war kurz vor 12.00 Uhr zu beobachten. Laut dem Einsatzleiter der Wiener Polizei warteten zur Spitzenzeit etwa 1.200 bis 1.300 Personen auf Einlass und die Abgabe ihrer Stimme. "Das ist eigentlich eine Demonstration, denn ohne den Aufruf zur Aktion 'Zu Mittag gegen Putin' gäbe es hier keine derartige Schlange", erklärte der prominente russische Politologe Kirill Rogow im Gespräch mit der APA vor der Botschaft.
Julia Nawalnaja in Berlin
In Berlin sorgte die Witwe von Kremlkritiker Alexej Nawalny für Aufsehen: Julia Nawalnaja beteiligte sich dort an einem Protest. Die Menschen klatschten, Nawalnaja wurden Blumen überreicht. Sie hatte zu einer Protestaktion am letzten Wahltag aufgerufen, bei der Gegner von Putin in Massen zu den Wahllokalen strömen sollen. Auf den Stimmzettel hat Nawalnaja den Namen ihres gestorbenen Mannes geschrieben.
Der bekannte Nawalny-Vertraute Leonid Wolkow sprach aus dem Exil heraus von einer "Explosion" des Widerstands gegen Putins Weiterregieren, das der Kreml wohl schon an diesem Montag pompös auf dem Roten Platz feiern wird.
Mehrere Protestaktionen am Wochenende
An den ersten beiden Wahltagen am Freitag und Samstag war es nach Behördenangaben zu mehreren Protestaktionen und Störversuchen gekommen. In 20 Fällen hätten Personen Flüssigkeiten in Wahlurnen geschüttet, um die Stimmzettel unbrauchbar zu machen, hatte die Wahlkommission mitgeteilt. Außerdem habe es Brandstiftungsversuche gegeben.
Nawalnys Team beklagte massenhaften Betrug bei der Abstimmung. Die Aktion gegen Putin sollte laut dem Nawalny-Team auch zeigen, dass die Angaben zur Wahlbeteiligung auch laut vielen unabhängigen Beobachtern manipuliert sind.
Mit Anzeigen bedroht
Teils hatten die Behörden in Russland vor solchen Protestaktionen gewarnt und den Menschen mit Anzeigen wegen Extremismus gedroht. In den sozialen Medien veröffentlichten Wähler Stimmzettel, auf denen neben Putins Namen das Wort Mörder stand. Manche schrieben demnach auch einfach den Namen Nawalnys auf den Stimmzettel. Ein älterer Mann sagte mit Blick auf den im Februar gestorbenen Oppositionsführer: "Mein Präsident ist schon nicht mehr unter den Lebenden". Nawalny ist in Moskau beerdigt.
Auch andere Putin-Gegner wie der im Exil in Großbritannien lebende russische Geschäftsmann Michail Chodorkowski riefen die Menschen auf, keine Angst zu haben und an der Aktion teilzunehmen.
Wahl weder frei noch fair
Putin will sich mit der Abstimmung für weitere sechs Jahre im Amt bestätigen lassen. Die Wahl gilt als weder frei noch fair. Zustimmungswerte von mehr als 80 Prozent für Putin sind zwar realistisch, dennoch stehen Behörden unter Druck, möglichst gute Ergebnisse zu seinen Gunsten zu melden. Am Sonntag gaben die Behörden den Zwischenstand der Wahlbeteiligung mit mehr als 60 Prozent an. Die letzten Wahllokale schließen am Abend um 19.00 Uhr (MEZ) in der russischen Exklave Kaliningrad. Offizielle Prognosen werden unmittelbar danach erwartet.
Die drei von der Putin-treuen Parlamentsopposition aufgestellten Bewerber gelten als reine Zählkandidaten. Putins politischen Gegner wurden von einer Kandidatur ausgeschlossen oder kamen plötzlich ums Leben wie Nawalny.
Kommentare