Freilich, eine schwache und instabile UdSSR, wie sie 1991 war, wünscht sich der Kreml nicht zurück. Vielmehr geht es um Absicherung: Moskaus Führung hat Angst, dass revolutionäre Funken – wie sie bei den Revolutionen in Georgien (2003), der Ukraine (2004) oder Kirgistan (2007) sichtbar wurden – ins eigene Land überspringen könnten. Nach Kasachstan, wo vor Kurzem Tausende gegen das herrschende, moskautreue Regime auf die Straße gegangen waren, entsandte der Kreml schnell „Friedenstruppen“, um das Gleichgewicht herzustellen. In anderen Ex-Sowjet-Staaten unterstützt Moskau ganz bewusst Separatisten, um den Zentralstaat zu destabilisieren – im ukrainischen Donbass etwa oder in Transnistrien, das sich von Moldau lossagen möchte, oder in Abchasien und Südossetien in Georgien.
Im eigenen Land therapiert der Kreml seinen Phantomschmerz anders. Da bedient man sich alter Sowjet-Sprache, erzählt vom „nahen Ausland“ und „Bruderstaaten“, wenn die alte Einflusssphäre gemeint ist, vermeidet das Wort „unabhängig“. „Zudem ist es Usus, die UdSSR und Russland völlig gleichzusetzen“, sagt Sasse – ein Narrativ, das auch im Westen weit verbreitet ist.
Wenig Wunder, wenn man sich ansieht, wie forsch Putin selbst die eigene Geschichte neu erzählt. 2008 sagte er beim NATO-Gipfel in Bukarest lapidar, die Ukraine sei überhaupt „kein Staat“, ein Teil des Landes sei ohnehin „von den Russen hergeschenkt worden“ – und den hole man sich gegebenenfalls zurück. Vergangenen Sommer veröffentlichte er unter anderem in der deutschen Zeit einen Aufsatz, in dem er ganz selbstverständlich meinte, Russland und die Ukraine seien „ein einziges Volk.“
Wer das hinterfragt, wird innerhalb Russlands mundtot gemacht. Erst vor Kurzem wurde das Menschenrechtszentrum Memorial, die wohl wichtigste russische NGO, die sich mit der Aufarbeitung der Verbrechen Stalins und darüber hinaus beschäftigte, per Schauprozess „liquidiert“, wie es im Russischen heißt. Dabei folgte sogar der Staatsanwalt öffentlich der vom Kreml vorgegebenen Sprache: Memorial, das seit den 1980ern aktiv war und mit zahlreichen Preisen bedacht wurde, wolle ja nur „Reue für die sowjetische Geschichte erzwingen, statt an die ruhmreiche Vergangenheit zu erinnern“, sagte er. Daneben wirkt die immer wieder aufflammende Diskussion darüber, ob man die einst umbenannte „Heldenstadt“ Wolgograd nicht wieder Stalingrad nennen sollte, fast wie harmlose Folklore.
Allein, bei den eigenen Bürgern kommt dass nicht uneingeschränkt an. Zwar wird der Heldenmythos der UdSSR, und da besonders jener Stalins, in jedem Geschichtsbuch gelehrt und per Erinnerungsgesetz und Verfassung geschützt, doch mittlerweile „ist die Resonanz in der Bevölkerung ambivalent“, sagt Sasse. „Der Raum für alternative Geschichtsinterpretationen ist gering, aber die Omnipräsenz historischer Bezüge führt auch zu Ermüdung.“
Selbst ein Krieg mit der Ukraine könnte Putin nicht das bringen, was etwa die als „historisch richtig“ angesehene Annexion der Krim 2014 geschafft hat: Damals stiegen seine Beliebtheitswerte in ungeahnte Höhen. „Das wird sich jetzt nicht wiederholen lassen“, sagt Sasse. Die Russen stünden nicht mehr mehrheitlich hinter Putin, so wie damals. Umfragen des unabhängigen Lewada-Zentrums zeigen, dass sich mehr als 60 Prozent vor einem großen Krieg fürchten; so viel wie noch nie in den vergangenen 25 Jahren.
„Die Bevölkerung will keinen Krieg. Ein Angriff wird Putins Beliebtheit sicher nicht erhöhen, im Gegenteil“, sagt Sasse. Gut möglich also, dass ein Angriff genau das bringt, wovor der Kreml sich fürchtet: Instabilität im eigenen Land.
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