"Hexenjagd" in Putins Armee: Wer die Wahrheit sagt, wird gefeuert

"Hexenjagd" in Putins Armee: Wer die Wahrheit sagt, wird gefeuert
Drei Wochen nach Prigoschins Meuterei sind die Risse größer als je zuvor. Armeeführung und Soldaten scheinen komplett entfremdet.

Bis vor Kurzem war Iwan Popow nur russischen Kriegsbloggern und westlichen Experten ein Begriff. Der Kommandeur der 58. russischen Armee, die um Saporischschja kämpft, gilt als besonders beliebt bei den Soldaten; er sei direkt und ehrlich, wird ihm nachgesagt.

Diese Ehrlichkeit ist ihm nun zum Verhängnis geworden – und sorgt für einen handfesten Skandal in den Reihen der russischen Armee. Weil Popow vor einigen Tagen der Armeeführung unmissverständlich klarmachen wollte, wie es an der Front zugeht, dass Material fehlt und seine Soldaten dringend Heimaturlaub brauchen, wurde er seines Postens enthoben – und selbst an die vorderste Front geschickt, heißt es in russischen Pro-Kriegs-Telegramkanälen.

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Nur: Popow war damit nicht mundtot zu machen. In einem Audiomitschnitt, der in sozialen Netzwerken kursiert, schimpft er jetzt in einer Weise über die Armeeführung, wie das bisher kein Mitglied der Streitkräfte öffentlich getan hat.

"Unsere Armee wurde nicht von den Ukrainern an der Front besiegt. Unsere Führung fiel uns in den Rücken. Sie enthauptete die Armee heimtückisch, und das in ihrem schwierigsten Moment“, sagt er da.

Popow schlägt damit in dieselbe Kerbe wie Wagner-Chef Prigoschin zuvor, der monatelang Generalstabschef Walerij Gerassimow an den Pranger stellte, dem er wiederholt Untätigkeit und Unfähigkeit vorwarf. Delikat an der Aufnahme ist zudem, dass Popow sie nicht selbst veröffentlicht hat, sondern der Duma-Abgeordnete Andrej Guruljow, selbst ein pensionierter Generaloberst. Der gehört jedoch nicht der Systemopposition an, sondern ist ein Mitglied von Putins Partei Einiges Russland.

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All das, sagen Beobachter, seien Reaktionen auf die „Hexenjagd“, die der Kreml seit der Meuterei Prigoschins veranstalte. Das Wall Street Journal berichtete am Mittwoch, dass seit dem Wagner-Aufstand zumindest 13 Personen aus den Streitkräften kurzfristig verhaftet oder ihres Amtes enthoben wurden; sie alle sollen von den Plänen Prigoschins gewusst haben, sie nicht verhindert oder gar unterstützt haben. Der prominenteste Verhaftete war dabei wohl „General Armageddon“ Sergej Surowikin, der bis Jänner noch die „Spezialoperation“ in der Ukraine leitete.

Schmiergeld-System

Einer der Gründe, warum sich derzeit so viele Risse in der russischen Armee auftun, dürfte wohl die weit verbreitete Schmiergeld-Praxis in den Streitkräften sein. Wie das kremlkritische Portal Sibir.real berichtet, wird von Soldaten an der Front ein Monatssold – knapp 1.000 Euro – verlangt, damit sie ihren eigentlich zugesicherten 14-tägigen Heimaturlaub alle sechs Monate antreten dürfen.

Wer das Geld nicht zahlt, muss bleiben und kämpfen, beklagen Angehörige von Mobilisierten dort. „Unsere Armee ist korrupt“, wird eine Mutter eines Soldaten zitiert.

Diese Machenschaften soll Popow an die Armeeführung herangetragen haben. Als die darauf nicht reagierte, soll er gedroht haben, sich direkt an Putin zu wenden, der von Gerassimow und Verteidigungsminister Schoigu ja stets mit geschönten Nachrichten versorgt werden soll. „Offenbar hatte die Armeeführung vor mir Angst“, sagt Popow. „Deshalb sind sie mich losgeworden.“ Evelyn Peternel

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