Bricht die Widerstandslinie bei Awdijiwka zu früh, droht ein Durchbruch
Videos von russischen Soldaten zeigen eine Mondlandschaft bis zum Horizont. Verkohlte Baumruinen, Artilleriekrater – und zahlreiche Leichen, die den Weg pflastern.
Das Dorf Berdychi, etwa zehn Kilometer nordwestlich von Awdijiwka. Ein russischer Truppentransportpanzer fährt unter Artilleriebeschuss vor, etwa zwölf russische Soldaten springen ab, suchen Deckung neben der Straße. Plötzlich eröffnet ein ukrainischer Bradley-Schützenpanzer das Feuer, Artillerie trifft den zurückfahrenden Transportpanzer, während die russischen Soldaten durch den Schützenpanzer niedergehalten werden. Streumunition vernichtet die Soldaten.
Dieser gescheiterte russische Angriff von Anfang März ist einer von vielen. Und viele endeten auf dieselbe Art und Weise. In einem „transparenten“ Schlachtfeld, wo Drohnen jeder Seite jede noch so kleine Vorbereitung erfassen, ist es schier unmöglich, ein Überraschungsmoment zu schaffen. Und dennoch sind nach wie vor Menschen notwendig, um Gelände in Besitz zu nehmen.
Nach dem Fall Awdijiwkas zogen sich die ukrainischen Verbände einige Kilometer zurück, auf leichter zu verteidigendes Terrain – was den russischen Streitkräften die Möglichkeit gab, sieben bis zehn Kilometer vorzurücken. An die Linie zwischen den Dörfern Tonenke, Orlowka - und Berdychi.
Widerstandslinie
Während die ersten beiden Dörfer von russischen Verbänden eingenommen wurden, steht auch Berdychi unter massivem russischem Druck. Westlich dieser Dörfer-Linie erschweren Wasser-Reservoirs, Bäche und Erhebungen einen weiteren russischen Vormarsch. In Kombination mit der einsetzenden Schlammperiode ist anzunehmen, dass die ukrainischen Streitkräfte versuchen werden, diese Linie so lange wie möglich zu halten, während noch weiter westlich eine stärkere Verteidigungslinie vorbereitet werden soll.
Tausende Soldaten und etwa 800 gepanzerte Fahrzeuge verloren die russischen Streitkräfte bei der Eroberung Awdijiwkas. Und auch der Vormarsch zur neuen Verteidigungslinie dürfte eine hohe Anzahl an Menschenleben gekostet haben. Videos, die westlich der Stadt von russischen Soldaten aufgenommen wurden, zeigen eine Mondlandschaft bis zum Horizont. Verkohlte Baumruinen, Artilleriekrater – und zahlreiche Leichen, die den Weg pflastern.
"Wir werden jeden Tag in die Schlacht geschickt. Oder zur Schlachtbank“
Immer wieder tauchen Videos russischer Soldaten auf, die sich über die Zustände an der Front beschweren: Man werde ohne Ausbildung zu Angriffen abkommandiert, würde man sich weigern, würden Offiziere damit drohen, sie zu Selbstmord-Angriffen zu schicken, beschwerten sich Vertragssoldaten aus Irkutsk. Sie hätten sich zur Territorialverteidigung gemeldet. Nun seien sie als Angriffstruppen in Donezk eingesetzt. Ein stellvertretender Kommandant, der versucht habe, in ihrem Namen zu intervenieren, sei festgenommen und abgeführt worden. „Wir werden jeden Tag in die Schlacht geschickt. Oder zur Schlachtbank“, heißt es in dem Video.
Dazu erhöhen Sturmtruppen aus Häftlingen den Druck auf die Ukraine: Dabei handelt es sich um Einheiten, die aus russischen Strafgefangenen bestehen – ganz nach dem Vorbild der Wagner-Truppen. Der Zweck der „Storm-Z"- und „Storm-V“-Truppen ist derselbe wie er es bei Wagner war: Ungeachtet von Beschuss oder Minen so nah wie möglich an die ukrainischen Verteidigungsstellungen herankommen, sodass die regulären Einheiten Schwachstellen erkennen und ausnützen können.
Auch auf ukrainischer Seite sind die Verluste hoch. Die ukrainische Brigade, die Anfang März den russischen Angriff auf Berdychi zurückschlug, verlor in dieser Zeit drei von den USA gelieferte Abrams-Kampfpanzer und damit zehn Prozent aller gelieferten Abrams. Zudem sollen vier Bradley-Schützenpanzer unter den zerstörten ukrainischen Fahrzeugen sein.
Gründe für diese Verluste sind seit Monaten dieselben: Mangel an Artilleriemunition, schlecht ausgebaute Verteidigungsstellungen, zu wenig Flugabwehrsysteme. Zwar dürften die russischen FAB-Bomben nicht an den vernichteten Panzern schuld sein, doch sie zerstören immer wieder ukrainische Stellungen – und werden immer mehr. Diese Gleitbomben sind im Wesentlichen konventionelle Bomben, die mit Navigationssystemen und zusätzlichen Flügeln ausgestattet sind.
Die russischen Angriffe westlich von Awdijiwka sind nur eine von mehreren russischen Angriffsrichtungen. Nach der Schlammperiode ist es nicht unwahrscheinlich, dass eine größere, russische Offensive folgt. Wo genau, darüber kann derzeit nur spekuliert werden. Während russische, regierungskritische Medien von Plänen berichten, die Stadt Charkiw einzunehmen, zielen westlich von Bachmut alle russischen Bemühungen darauf ab, den Ort Tschassiw Jar zu erobern. Sollte dies den russischen Streitkräften – unter massiven Verlusten – gelingen, wäre die Stadt Kramatorsk in Reichweite ihrer Artillerie.
Währenddessen ist nach wie vor unklar, ob die Ukraine eine erneute Mobilmachungswelle durchführt – und ob der US-Kongress die Militärhilfe für die Ukraine freigibt.
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