Russen auf der Flucht: "Größter Exodus seit Oktoberrevolution 1917"
Der Angriffskrieg gegen die Ukraine, den Kremlchef Wladimir Putin vor knapp acht Wochen vom Zaun gebrochen hat, hat Millionen Ukrainer das Zuhause gekostet. Doch auch Hunderttausende Russen haben ihre Heimat seit Beginn der Invasion des Nachbarlandes verlassen.
Laut Schätzungen russischer NGOs von Anfang April kehrten bisher mehr als 300.000 Menschen Russland den Rücken; die Deutsche Welle nennt es den größten Exodus seit der Oktoberrevolution 1917 (gewaltsame Machtübernahme der kommunistischen Bolschewiki).
Offizielle Zahlen gibt es nicht, die Regierung in Moskau schweigt über abtrünnige Landsleute ebenso wie über die Zahl getöteter Soldaten in der Ukraine.
Repressionen und Zukunftsangst
Die Gründe der Russen für einen Gang ins Exil sind vielfältig: Wirtschaftliche Sorgen, Angst vor Einberufung zum Militär oder die Repressionen gegen Andersdenkende in Russland. Zumeist sind es gut ausgebildete, junge Menschen, die das Land verlassen: IT-Fachkräfte, Journalisten, Künstler oder Wissenschafter.
Nach Angaben des unabhängigen Lewada-Instituts halten mindestens 20 Prozent der Russen den Ukraine-Krieg für falsch. Ihre Heimat zu verlassen, ist für viele aber keine Option. Sozial Schwächere können sich die Kosten einer Flucht auch gar nicht leisten.
Top-Destinationen
Während es Flüchtende aus der Ukraine vor allem in die EU zieht, geht der überwiegende Teil der Russen in Länder, für die sie kein Visum brauchen, in denen russische Airlines noch landen dürfen oder in denen es russisch-sprachige Communities gibt.
Neben den zentralasiatischen Staaten Usbekistan, Kasachstan und Kirgistan sowie dem Baltikum sind das vor allem die Türkei, die viele Russen vom Urlaub kennen, sowie die Ex-Sowjetrepubliken Armenien und Georgien.
Einem dpa-Reporter zufolge sind Hotels, Pensionen und Mietwohnungen in der armenischen Hauptstadt Eriwan voll mit Russen belegt. Ähnlich ist es im georgischen Tiflis. Er habe hier viele Kollegen von anderen russischen Medien getroffen, zitiert die Deutsche Welle einen russischen Investigativjournalisten: „Man hat den Eindruck, die ganze Medienszene sei emigriert.“
Kostenlose Wohnungen
Unterstützung beim Neuanfang außerhalb Russlands finden die Menschen in einschlägigen Telegram-Gruppen und bei Initiativen wie „OK Russians“ oder „Die Arche“.
Letztere wurde Anfang März mit Unterstützung des prominenten russischen Exil-Oppositionellen Michail Chodorkowski gegründet. „Die Arche“ finanziert sich über Spenden und hilft Russen in Istanbul und Eriwan, zumindest zeitweise eine kostenlose Unterkunft zu finden und ihre Zukunft zu planen.
Viele hoffen auf eine Rückkehr in die Heimat oder wollen auf längere Sicht in andere Länder weiterreisen, etwa in die EU oder nach Kanada. Und nicht immer sind die Exil-Russen gern gesehen: Vor allem in Georgien, das 2008 selbst von Russland angegriffen wurde, begegnet man ihnen oft mit Skepsis.
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