Arm, illegal und voll Hoffnung
Es ist ein normales Bild in manchen deutschen Fußgängerzonen: Frauen mit verwahrlosten Babys am Arm, Kinder im Grundschulalter und scheinbar behinderte Alte betteln. Die Männer stehen in Gruppen, bieten Hütchenspiele oder sich als Arbeiter an. Fast alle sind auf den ersten Blick als Roma erkennbar: Die europäische Armutswanderung ist nach den italienischen und spanischen Städten nun auch in deutschen angekommen.
Das überfordert schon jetzt viele von ihnen, vor allem Berlin und die Städte im verarmenden Ruhrgebiet. Etwa Duisburg: Im Stadtteil Rheinhausen-Bergheim hausen in einem heruntergekommenen siebenstöckigen Wohnhaus jetzt 300 Roma. Es ist stete Quelle von Sorgen und Ärger für die Nachbarschaft und die Stadt: Müllhalden, Bewohner, die ihre Notdurft im Park davor verrichten, 350 Strafverfahren allein 2012 gegen seine Bewohner.
Die Infrastruktur jener Städte, in die Roma zu Verwandten und Schlepper-Adressen bevorzugt ziehen, ist überfordert. Immer mehr Kinder, die kein Wort Deutsch sprechen, stehen plötzlich vor den Schulen, die Gesundheitsämter kämpfen mit Hygiene-fernen Dauerkranken bis hin zur aggressiven Tuberkulose, die Polizei ist machtlos: Das ist auch sozialer Sprengstoff in Vierteln, in denen die früheren Einwanderer sich gegen die Zuzügler zu wehren beginnen.
Prekäre Wohnsituation
Die Stadt Mannheim hat vor Kurzem nach langem, erfolglosem Druck sogar eine der privaten Massenbilligstunterkünfte gekauft und geräumt: Anders wurde sie der unhygienischen Zustände darin nicht mehr Herr.
„Die Wohnsituation der Roma, verursacht auch durch Ausbeutung, ist das größte Problem der Kommunen“, sagt der nordrhein-westfälische Integrationsminister Guntram Schneider (SPD). „Daran wird sich nichts ändern“: Roma mit ihrer mangelnden Qualifikation würden weiterhin nur wenig legale Arbeit finden und auf Sozialhilfe angewiesen bleiben.
Seit Rumänien und Bulgarien 2007 der EU beitraten, kamen offiziell rund 800.000 ihrer Bürger nach Deutschland, inoffiziell viel mehr. Nur ein Drittel ist ausgebildet und integriert, zwei Drittel sind Armutsflüchtlinge, und das weit überwiegend Roma. Sie dürften zur Suche von Arbeit nur drei Monate in Deutschland sein und müssten zurückkehren, so sie keine finden.
Doch das ist Theorie. Fast alle bleiben illegal oder arbeiten schwarz in Primitiv-Jobs für zwei bis drei Euro die Stunde , ausgebeutet von Subunternehmern, oft Landsleuten. Manche Frauen landen in der Prostitution.
EU als Sozialunion
Immer häufiger organisieren die Schlepper ihren Opfern, denen sie raschen Wohlstand versprechen, einen Gewerbeschein: Der macht den Aufenthalt legal und öffnet den Zugang zu Sozialleistungen. In Berlin-Neukölln gibt es Adressen, unter denen 200 Betriebe von Roma angemeldet sind – von denen die meisten kaum Deutsch können oder Analphabeten sind. Die Berliner Verwaltung aber gibt sich überfordert.
Doch so dramatisch die Lebensbedingungen der Roma anmuten mit den oft ungeheizten, verwahrlosten Quartieren und dem Leben von der Hand in den Mund: Im direkten Kontakt geben sie zu, dass ihr Leben in Deutschland immer noch besser ist als in der Heimat – vor allem aber Hoffnung bedeutet: „Bei uns gibt es keine Welt“, sagt ein früher schon zugezogener Roma in schlechtem Deutsch, „und ich will nicht, dass meine Kinder das erleben müssen, was ich erlebt habe. Wir sind Zigeuner, wir haben kein Land.“ Zuhause lebten sie buchstäblich auf Müllhalden und würden auch weiterhin diskriminiert – trotz EU.
Deshalb wird der Zuzug bald noch schneller anwachsen: Ab 1. Jänner werden alle freien Zugang zum Arbeitsmarkt und leichteren zu den EU-weit höchsten Sozialleistungen haben. Daher hat jetzt der Deutsche Städtetag einen „Dringenden Hilferuf an die Bundesregierung“ um viele Millionen Euro gerichtet.
Fachpolitiker Schneider: „Die Armutsmigration wird zunehmen, der Zug ist abgefahren“. Und die Kommunen müssten ausbaden, was bei der EU-Erweiterung falsch gemacht wurde. „Ich bin aber ein Gegner von Sonderregelungen. Die EU muss eine Sozialunion werden“, fordert der Sozialdemokrat.
Roma gehen weit überwiegend in Großstädte mit SPD- oder Rot-Grün-Regierung und geringerem Behördendruck. Die zwei Parteien werfen der Bundesregierung und Innenminister Hans-Peter Friedrich (CSU) vor, den Kommunen Hilfe zu verweigern. Die grüne EU-Abgeordnete Barbara Lochbihler beschuldigt ihn sogar „rassistisch konnotierten Stimmenfangs“, weil er sage, wer nur wegen Sozialhilfe komme, müsse wieder gehen. Die Grünen fordern für Roma vollen Zugang zu Arbeitsmarkt und Sozialhilfe und ein großes „Integrationsprogramm für Arbeit, Wohnen, Bildung und Gesundheit“.
Im Interview mit dem KURIER sagt Friedrich zu:
– Freizügigkeit ab 1. 1. 2014
Wer hier arbeiten oder studieren will, ist willkommen, wer nur Sozialleistungen in Anspruch nehmen will, nicht. Bis 1. 1. 2014 müssen wir daher auf EU-Ebene bilaterale Maßnahmen setzen, die dem Sozialmissbrauch begegnen.
– Missbrauch der Freizügigkeit
Kommunen und Länder müssen dafür sorgen, dass das vorhandene rechtliche Instrumentarium auch konsequent angewendet wird. Die Bürger erwarten zu Recht, dass die Behörden vor Ort entschlossen gegen Sozialmissbrauch vorgehen. Auch bei Gewerbeanmeldungen zum Erschleichen von Sozialleistungen gibt es klare Vorschriften, auch für Berlin.
– Finanziellen Hilfen für die Kommunen durch den Bund
Die Zusammenarbeit mit Ländern und Kommunen muss verstärkt werden. Dazu ist Ende vergangenen Jahres eine Arbeitsgruppe von Bund und Ländern eingerichtet worden, deren Ziel praxistaugliche Handlungsansätze zur Entlastung der betroffenen Kommunen sind. Die sind durch den Deutschen Städtetag eingebunden.
Schon jetzt ergänzt der Bund die Angebote vor Ort durch zentrale Maßnahmen zur allgemeinen sowie arbeitsmarktspezifischen Integrationsförderung. Aber zur Integration gehören immer zwei Seiten. Die Angebote müssen auch angenommen werden.
– Umgang mit Abgeschobenen
Derzeit können wir die Wiedereinreise nur denjenigen untersagen, die wegen schwerer Straftaten ausgewiesen wurden. Das reicht aber nicht. Auch jene, die hier betrogen oder Dokumente gefälscht haben, müssen dauerhaft außer Landes gehalten werden.
Daran haben auch unsere europäischen Nachbarn Interesse. Daher müssen wir auf EU-Ebene gemeinsam so schnell wie möglich Lösungen finden.
– Druck auf die Heimatländer
Es ist völlig klar, dass Bulgarien und Rumänien die Lebensbedingungen der Menschen im Land verbessern müssen, damit die gar nicht erst ausreisen. Und sie müssen die Gelder, die heute schon über den EU-Haushalt bereit gestellt werden, auch so verwenden, dass es tatsächlich vor Ort hilft.
Es ist Aufgabe der EU- Kommission, die zielgerichtete Verwendung dieser Mittel konsequent zu überwachen. Es kann nicht sein, dass wir zwei Mal zahlen: Einmal über die Europäische Union und ein zweites Mal durch Sozialleistungen hier.
Bei ihrem Versuch, Rettungsschirme für Banken aufzuspannen, hat sich die EU als willig, zäh und erfolgreich erwiesen. Von einem Rettungsschirm für jene Menschen, die von Europas reichen Staaten neuerdings euphemistisch als „Armutszuwanderer“ bezeichnet werden, ist hingegen kein Wort zu hören. Die Rede ist nicht von Asylsuchenden oder Kriegsflüchtlingen, sondern von Roma, überwiegend aus Rumänien und Bulgarien, also Zuwanderern mit EU-Pass. Zu Tausenden sind sie in den vergangenen Jahren vor allem nach Deutschland gekommen, auf der Suche nach Arbeit und, wie es ihnen meist Schlepperbanden versprachen, einem besseren Leben.
Wer einmal eine der vielen tristen Roma-Gettosiedlungen Osteuropas gesehen hat, meist ohne Strom, Toiletten, Kanalsystem und Müllentsorgung, der weiß: Auch arm, isoliert und arbeitslos lebt es sich für die „Armutszuwanderer“ in abbruchreifen Mietshäusern deutscher Plattenbausiedlungen menschenwürdiger als daheim. Die deutschen Kommunen aber stehen angesichts des wachsenden Zustroms vor riesigen Problemen: Zwischen Zuwanderern und Einheimischen wachsen die Spannungen, die sozialen Ausgaben, etwa für Kinderbeihilfe oder Gesundheitsausgaben, steigen stark. Schon warnt der Deutsche Städtetag vor einer „Gefährdung des sozialen Friedens“.
Mit billigen, rechtsradikalen Parolen der Marke „Zurückschicken“ wird sich das Problem nicht lösen lassen. Am ehesten könnte die Wanderungsbewegung gebremst werden, wenn die Lebensbedingungen der zwölf Millionen Roma in Osteuropa verbessert werden. Dafür aber bedarf es eines gesamteuropäischen Kraftaktes – einer, der genauso engagiert, effizient und entschlossen sein müsste wie bei der Rettung der Banken.
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