Armut: "Nicht den Kopf wegdrehen“

Armut: "Nicht den Kopf wegdrehen“
Kinder, die in Armut aufwachsen, leben um fünf Jahre kürzer. Eine junge Initiative fordert jetzt eine "neue Kultur des Teilens".
Armut: "Nicht den Kopf wegdrehen“

Die Heizkosten für den Winter, ein Hörgerät, Therapien für Kinder, die von den Kassen nicht bezahlt werden: Seit 2008 hilft die Aktion "Nein zu Arm und Krank" Menschen, die unverschuldet in Not geraten sind. "Seit dem vergangenen Winter hat sich etwas verändert", sagt der Mediziner Univ.-Prof. Siegfried Meryn, einer der Gründer der Initiative: "Die Anfragen nehmen zu. Es kommen immer mehr Menschen, die geglaubt haben, ihnen kann das nie passieren – weil sie ja gut ausgebildet sind und ohnehin einen guten Job haben. Zunehmend sind es auch Menschen über 50, die niemand mehr beschäftigen will."

Mit einer Benefizaktion in der Wiener Staatsoper (siehe unten) will "Nein zu Arm und Krank" Mittel für seinen Soforthilfefonds sammeln.

"Jeder achte Mensch in Österreich ist von Armut bedroht", sagt Meryn. "Viele denken dabei nur an einen Mangel an finanziellen Mitteln. Aber Armut bedeutet immer auch einen Mangel an Möglichkeiten: Schlechtere Bildungschancen, schlechterer Gesundheitszustand, mehr Krankheiten, kürzere Lebenserwartung, eingeschränkte Teilnahme am sozialen Leben. "

So sei die Lebenserwartung eines Kindes, das in Armut aufwächst, um fünf Jahre kürzer als die eines Kindes aus einem finanziell gut abgesicherten Elternhaus. Psychische, aber auch allergische und Atemwegserkrankungen seien bei Armut wiederum wesentlich häufiger. "Für mich ist das komplett ungerecht. Ein Kind kann ja nichts für die Verhältnisse, in die es hineingeboren wurde. "

Deshalb könne er überhaupt nicht mit Sätzen wie "Selber schuld", "Was geht mich das an?", "Jetzt muss ich auf mich schauen, es wird für alle härter" umgehen .

Wendepunkt

Meryn: "Wir können nicht einfach unseren Kopf wegdrehen. Jetzt ist Solidarität gefragt. Unsere Gesellschaft steht an einem Wendepunkt. Immer mehr Menschen können nicht an unserem konsumorientierten Lebensstil teilhaben."

Es gehe aber nicht nur um finanzielle Solidarität mit den Schwächeren, sondern auch um eine "neue Art des Teilens": "Das eine ist meine – sehr wichtige – Spende. Das andere sind meine Werte, meine Haltung."

Teilen heiße auch: "Ich teile Zeit und gehe für ältere Menschen einkaufen, lade einsame Nachbarn ein. Ich gebe Kindern, deren Muttersprache nicht deutsch ist, ehrenamtlich Nachhilfe."

Oft höre er das Wort Sozialschmarotzer: "Aber da entgegne ich immer: Niemand lebt freiwillig von der Mindestsicherung in der Höhe von 773 Euro. Missbrauch ist die Ausnahme. Wir sehen ja in den Unterlagen die Kündigung oder die Krankheit."

Immer öfter seien Alleinerzieherinnen von Armut betroffen: "Da geht es sich dann einfach finanziell überhaupt nicht mehr aus. Besonders schlimm wird es, wenn eine schwere Krankheit wie Brustkrebs dazukommt und die Frauen den Ansprüchen ihrer Kinder nicht mehr gerecht werden können: Sie schämen sich, dass sie ihnen keine Möglichkeiten bieten können."

Rund 1,9 Milliarden Euro wären notwendig, um das Einkommen aller Haushalte auf die Armutsschwelle von 1031 Euro aufzustocken, zitiert Meryn eine Studie: "Natürlich ist das eine große Summe. Aber eine Gesellschaft muss sich überlegen, in welche Richtung sie gehen will – und ob sie der stetigen Vergrößerung der Einkommensschere zwischen Arm und Reich etwas entgegensetzen will." Denn: "Unser privates Engagement entlässt den Staat nicht aus seiner Verpflichtung. Wir müssen verhindern, dass die Kinder, die heute in Armut aufwachsen, die Kranken und Armen von morgen sind."

Leser am Wort: Posten Sie Ihre Vorschläge zum Thema Gesundheit unter kurier.at/leseramwort

Plácido Domingo singt für "Nein zu Arm und Krank"

Armut: "Nicht den Kopf wegdrehen“

Die Vorstellung von Simon Boccanegra" am 7. 11. in der Wiener Staatsoper – mit Plácido Domingo in der Titelpartie – ist eine Benefizaktion zugunsten der Initiative "Nein zu Arm und Krank": Die Preise der ersten drei Kategorien wurden angehoben (Kategorie 1: 500 statt 212 €; Kategorie 2: 350 statt 185 €; Kategorie 3: 250 statt 139 €). Der Zuschlag geht als Spende an den Soforthilfefonds von "Nein zu Arm und Krank" (siehe auch rechts) . Alle anderen Kategorien sind zu den Normalpreisen erhältlich. Im Kartenpreis der ersten Kategorie ist außerdem ein gesponsertes Dinner im Anschluss an die Vorstellung auf der Hinterbühne der Wiener Staatsoper inkludiert, bei dem Künstlerinnen und Künstler der Produktion anwesend sein werden.

Staatsoperndirektor Dominique Meyer: "Die Wiener Staatsoper hat diese Benefizaktion ermöglicht, da wir als eine der wichtigsten kulturellen Institutionen dieses Landes auch auf die Gesundheitssituation sozial schwächerer Mitmenschen aufmerksam machen wollen. Es ist sehr erfreulich, dass viele Menschen bereit sind, in den ersten drei Kategorien an diesem Abend einen höheren Preis zu bezahlen, um Bedürftigen direkt und konkret zu helfen."

INFO

Restkarten für die ersten drei Kategorien sind erhältlich an allen Bundestheaterkassen, im Internet unter www.wiener-staatsoper.at sowie telefonisch mit Kreditkarte unter Tel. 01 / 513 1 513.

Weblink: www.neinzuarmundkrank.at

Mehr zum Thema

  • Hauptartikel

  • Hintergrund

  • Hintergrund

Kommentare