Reportage aus Paris: "So schrecklich es ist – soll ich nicht hier spazieren?"

Blumen am Anschlagsort auf den Champs-Élysées.
Nach dem jüngsten Terrorakt in Paris sind die Bewohner erschüttert, aber kämpferisch. Mit Spannung wird erwartet, wie sich der Angriff auf die Präsidentenwahl am Sonntag auswirkt.

Ein im Frühlingswind flatterndes rot-weißes Plastikband sperrt einen Teil des Gehsteiges auf den Champs-Élysées ab. Es ist der einzige Hinweis auf den jüngsten Anschlag in der französischen Hauptstadt, nur wenige Hundert Meter vom Triumphbogen entfernt. Der sechsspurige Verkehr tost wieder ungehindert die Prachtstraße entlang, die Cafés und Restaurants sind gut besucht, Paris zeigt sich auch nach dieser Nacht des Terrors einmal mehr so, als wäre nichts gewesen.

Irene Kaplan hat davon gehört: Ein 39-jähriger, schon vor Jahren wegen versuchten Mordes verurteilter radikaler Islamist (siehe Seite 5) hat mit einem Schnellfeuergewehr auf eine Gruppe Polizisten geschossen. Ein Sicherheitsbeamter starb, zwei weitere sowie eine deutsche Touristin wurden verletzt. Der Attentäter wurde erschossen.

Vor der Absperrung bleibt Irene kurz stehen. "Was können wir tun?", sagt die Pensionistin. "So schrecklich es ist, aber soll ich deswegen nicht die Champs-Élysées entlangspazieren? Terror passiert doch überall, man braucht ja nur nach Stockholm zu schauen", gibt die Pariserin zu bedenken. Und doch wirkt die zierliche Frau viel erschütterter, als sie es zugeben mag.

250 Terrortote

Schon wieder Terror. Seit zwei Jahren sind es an die 250 Menschen, die in Frankreich Terrorakten von Dschihadisten zum Opfer fielen. Und nur dank großen Glücks und Zufalls war Irene Kaplans Tochter nicht dabei. "Im November 2015, als der Anschlag im Bataclan passierte, saß meine Tochter in einem Restaurant gleich neben der Konzerthalle."

Mit Mühe kämpft Irene Kaplan gegen die Tränen an und blickt dennoch fast ein wenig trotzig nach vorne. "Ich hoffe wirklich nur, dass dieses Attentat nicht Marine Le Pen hilft, aber ich befürchte, es wird so sein."

Ob der neuerliche Terrorakt in Paris und die gerade noch rechtzeitig am vergangenen Dienstag erfolgte Verhaftung zweier potenzieller Terroristen in Marseilles tatsächlich der Kandidatin des rechtspopulistischen Front National mehr Wähler in die Arme treibt, lässt sich schwer abschätzen (siehe Seite 5).

"Mich wundert das nicht, dass so viele Leute mit dem Front National sympathisieren", sagt Kioskbesitzer Serge. Er selbst, nein, er werde wohl für den konservativen Kandidaten François Fillon stimmen, auch wenn der mit vielen Skandalen belastet sei. "Ich mag diese Rassisten vom Front National nicht, aber zugeben muss ich: Wir haben so viele Probleme mit der Migration."

Unmittelbar vor dem Urnengang hat der Terror wieder seinen Schatten auf den Präsidentschaftswahlkampf geworfen. Alle vier Kandidaten mit den größten Siegeschancen für die erste Wahlrunde am Sonntag, Marine Le Pen, Emmanuel Macron, François Fillon und Jen-Luc Melénchon, sagten ihre letzten Wahlkampfveranstaltungen ab. Sicherheit und Terrorangst sind plötzlich wieder beherrschendes Thema.

Mitten in die TV-Live-Interviews mit allen Kandidaten war Donnerstagabend die Meldung vom Anschlag geplatzt. "Ich bin bereit", versprach daraufhin der in Umfragen hauchdünn führende Emmanuel Macron, das Land und die Franzosen zu beschützen. Marine Le Pen versuchte erneut, sich als alleinige Garantin für die Sicherheit Frankreichs zu präsentieren.

Angst vor dem Wahltag

Vanessa Attias aber traut keinem einzigen Kandidaten und ihren Versprechen, Frankreich wieder sicher zu machen. "Ich wüsste nicht, wie irgendein Politiker das Problem lösen könnte. Wir haben so viel Überwachung, so viele Polizisten auf den Straßen. Und eigentlich hätte der Attentäter von gestern doch gar nicht in Freiheit sein dürfen, oder?" Unruhig rückt die Werbefachfrau auf ihrem Sessel hin und her. Ein bisschen Angst begleite sie neuerdings immer, meint sei. Ob im Theater, bei einem Konzert, in der U-Bahn. "Ich sehe mir die Taschen in meiner Umgebung immer genau an." Das jüngste Attentat habe sie nicht überrascht, erzählt die Mutter zweier Teenager. "Das war doch wegen der Wahl. Und vor dem Wahltag habe ich auch Angst."

Ein riesiges Sicherheitsaufgebot von 50.000 Soldaten und Polizisten soll am Sonntag für einen gewaltfreien Ablauf des Urnengangs sorgen. Die Pariserin bleibt dennoch besorgt. "Meinen Kindern habe ich dieses Wochenende verboten, auszugehen." Vorbei, so befürchtet, Vanessa, sei das alles lange noch nicht.

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