Rendi-Wagner: "Der Weg in den dritten Lockdown ist programmiert"
KURIER: Frau Klubobfrau, die SPÖ hat bisher mehrfach Anti-Corona-Maßnahmen der Bundesregierung im Parlament mitgetragen. Jetzt sind die Infektionszahlen wieder sehr, sehr hoch, ein neuer, harter Lockdown steht bevor. Werden Sie wieder mitstimmen?
Pamela Rendi-Wagner: Die Situation ist ernst, weil die Regierung die Kontrolle völlig verloren hat. Die Notbremsung ist durch dieses Versagen notwendig. Der Lockdown ist aber als Gesamtpaket zu betrachten, und ich bin gegen Schulschließungen. Problematisch ist, seitens der Regierung so zu tun, als wäre die dramatische Ausbreitung des Virus eine schicksalhafte, die vom Himmel gefallen ist. Das ist falsch. Das Virus ist längst nicht mehr alleinverantwortlich, da gibt es viele Mitverantwortliche, die Politik ist ein wesentlicher Teil.
Inwiefern?
Die Bundesregierung ist unvorbereitet in den Herbst gegangen, obwohl viele Expertinnen und Experten, darunter auch ich, vor einem Anstieg gewarnt haben. Man hat den Sommer verschlafen, kostbare Zeit liegen lassen und den Vorsprung, den wir im Mai hatten, verspielt.
Was hätte denn über den Sommer geschehen sollen?
Man hätte das Contact-Tracing personell und organisatorisch ausrüsten und auf eine zweite Welle vorbereiten müssen. Man hätte mit den Bundesländern und den Krankenhäusern einen Plan machen müssen, wie man gezielt Intensivstationen aufstocken kann. Man hätte ein Sicherheitskonzept für den Schulalltag erarbeiten müssen, sodass Unterricht stattfinden kann – mit Belüftungen, mit Masken, mit einer Teststrategie für das Lehrpersonal. Stattdessen gab es im Sommer einen PR-Wettlauf zwischen den Regierungspartnern, und es wurde viel zu früh von Licht am Ende des Tunnels gesprochen. Das war ein großer Fehler von Sebastian Kurz. Diese Versäumnisse müssen jetzt alle ausbaden, auch die, die sich sehr genau an alle Vorgaben gehalten haben, und daher verstehe ich auch den wachsenden Missmut in der Bevölkerung. Wenn sich die Regierung jetzt ausschließlich an der Bevölkerung abputzt, ist das billig.
Bei den Schulschließungen geht es auch darum, die Eltern aus dem Kontaktgeschehen zu ziehen. Ist das für Sie kein Argument?
Schließen ist das Einfachste, da braucht es keine Kompetenz, das kann jeder. Der Kollateralschaden von geschlossenen Schulen ist enorm – vom Bewegungsmangel für die Kinder über die psychische Gesundheit der Schüler bis hin zu Betreuungsproblemen. Ich gebe zu bedenken, dass auch Krankenhaus- und Pflegepersonal, Ärztinnen und Ärzte Kinder haben, aber an ihrem Arbeitsplatz gebraucht werden. Schulen zusperren ist eine Maßnahme von wenig Nutzen und großem Schaden.
Wo würden denn Sie zielsichere Maßnahmen setzen?
Um zielsichere Maßnahmen zu setzen, muss ich einmal wissen, wo sich die Leute wirklich anstecken. Aber das Contact-Tracing funktioniert ja nicht mehr. Nur noch jeder 13. Fall kann nachverfolgt werden. Da frage ich mich, auf welcher Basis die Regierung handelt. Das schaut mir nach einem Blindflug aus.
Die Situation scheint tatsächlich entglitten zu sein. Was halten Sie von einem Durchtesten der gesamten Bevölkerung wie in der Slowakei, um wieder einen Überblick zu bekommen?
Ich befürchte, dass wir weder die personellen, noch die organisatorischen Ressourcen dafür haben. Ich plädiere für eine zentral koordinierte Teststrategie, die klug dort ansetzt, wo Infektionen zu vermeiden sind: bei Alters- und Pflegeheimen, bei Lehrern, auch bei Großveranstaltungen könnte man alle Besucher durchtesten. Die neuen Antigentests gehen schnell, in fünf Minuten hat man das Ergebnis, und man kann sie selbst zu Hause durchführen. Die Lehrer könnten sich einmal wöchentlich testen, man könnte auch Personal in Restaurants – überhaupt alle Menschen, die viele Kontakte haben – mit Tests versorgen.
Ist das leistbar?
Es nicht zu tun, verursacht viel höheren Schaden – gesundheitlich, wirtschaftlich und sozial.
Wiens Gesundheitsstadtrat Peter Hacker sagt, das Epidemiemeldesystem sei nur auf 7.000 Salmonellenfälle im Jahr ausgelegt. Sie waren als Sektionschefin und Ministerin bis vor drei Jahren für Pandemievorsorge zuständig – stimmt das? Ist das alles so veraltet?
Das EMS ist eine Datenbank, nicht mehr und nicht weniger. Die Datenbank ist nicht veraltet, aber sie ist nur so gut, wie sie betreut und gepflegt wird. Wenn das Personal dort fehlt, kann es zu Fehlern kommen. Das ist wie beim Contact-Tracing – auch da hätte der Sommer genutzt werden können, um Personal aufzubauen.
Wie kann es nach diesem Lockdown weitergehen? Jetzt folgt das Weihnachtsshopping, dann die Familienfeiern – sind im Jänner wieder dort, wo wir jetzt sind?
Wenn sich das Covid-Management nicht dramatisch verbessert, steuert die Bundesregierung Österreich direkt in einen dritten Lockdown. Wir reden jetzt alle vom zweiten, aber der Punkt ist, dass der Weg in den dritten Lockdown programmiert ist, wenn sich das Management nicht massiv verbessert.
Wenn wir über Versäumnisse reden – zu Beginn der Pandemie fehlte es an Schutzausrüstungen für das Gesundheitspersonal. War das für Sie nicht absehbar, dass eine Pandemie kommen würde?
Die Dimension dieser Pandemie hat es seit 100 Jahren weltweit nicht gegeben. Dass man auf die Dimension nicht 1 zu 1 vorbereitet war, ist nicht überraschend. Aber seither sind acht Monate vergangen, man hat Erfahrungen gesammelt – und die muss man nützen. Ich habe daher vorgeschlagen, den neuerlichen Lockdown durch Experten zu begleiten, damit man sieht, welche Maßnahmen wirken und welche weniger.
Wie schätzen Sie die angekündigte Impfung ein?
Man darf sich keine Wunder erwarten. Die Impfung allein ist es nicht. Es braucht einen Impfplan, damit man möglichst schnell möglichst viele impfen kann. Für die älteren Menschen, die nicht außer Haus gehen können. muss man mobile Impfteams schaffen.
In Österreich gibt es immer mehr Impfgegner. Wie soll man die Leute zum Impfen bringen?
Das Allerwichtigste ist vertrauenswürdige, ehrliche Kommunikation. Man muss erklären, was das für eine Impfung ist, welche Nebenwirkung sie hat, warum wir sie brauchen. Man darf keine Wunder versprechen, die dann nicht eintreten. Diese Impfung wird eine Infektion möglicherweise nicht verhindern, sondern nur einen schweren Verlauf zu einem leichten machen. Auch das wäre ein großer Fortschritt, weil das Druck aus dem Gesundheitssystem und insbesondere aus den Intensivstationen herausnehmen würde.
Zum Terror: Bei der Aufklärung der Fehler im Innenministerium und im Verfassungsschutz verweigert die Regierung der Opposition jede Mitsprache. Was werden Sie dagegen tun?
Die zentrale Frage lautet: Hätte dieser Anschlag verhindert werden können? Es gibt Hinweise auf schwere Fehler des Innenministeriums, das muss rasch, ernsthaft und unabhängig aufgeklärt werden. Ich bin da skeptisch, wenn der hauptverantwortliche Innenminister sich selbst seine Untersuchungskommission zusammensetzt. Wir werden im Nationalen Sicherheitsrat und im Geheimdienstausschuss des Parlaments Aufklärung einfordern. Wenn das nicht hilft, werden wir darüber hinausgehende parlamentarische Instrumente nutzen.
Haben Sie sich von den Grünen mehr Unterstützung erwartet bei Ihrer Forderung nach Aufklärung und Transparenz bei den BVT-Pannen?
Die Grünen befinden sich in einer Mitte-rechts-Koalition und tragen bisher mit, was die ÖVP verlangt. Ich appelliere aber schon an das Demokratiebewusstsein der Grünen. Wenn es eine politische Verantwortung für den Zustand des Verfassungsschutzes gibt, dann liegt sie bei der ÖVP. Nach fast zwanzig Jahren an der Spitze des Innenministeriums muss man sagen, die ÖVP ist eine Unsicherheitspartei.
In Wien entsteht gerade Rot-Pink. Ist sozialliberal ganz generell für Sie ein politisches Konzept?
Rot-Pink in Wien ist spannend, mutig und für Österreich im Gegensatz zu Deutschland neu. Es gibt eine gewisse Schnittmenge zwischen den beiden Parteien, in der Gesellschaftspolitik, bei Menschenrechten und Bildung und bei einem starken Bekenntnis zu Demokratie, Rechtsstaatlichkeit und Freiheit. Die Sozialdemokratie steht für eine solidarische Gesellschaft, in der jeder Mensch die Chance bekommt, Leistung zu erbringen und ein erfülltes Leben zu führen. Ich kann mir gut vorstellen, dass sich die Neos da auch wiederfinden. Es gibt auch im Parlament eine fruchtbare Zusammenarbeit zwischen SPÖ und Neos, auch persönlich zwischen mir und Beate Meinl-Reisinger.
Wenn Sie erlauben, noch ein paar persönliche Fragen. Helfen Sie noch immer beim Samariterbund aus?
Ja, einmal die Woche ehrenamtlich als Ärztin. Gemeinsam anzupacken ist jetzt wichtig. Ich bin dort, wo man mich braucht, einmal in der Teststraße, einmal bei den öffentlichen Grippeimpfaktionen. Das gibt auch mir die Möglichkeit, einmal ein paar Stunden aus der Politik rauszutreten. Das erdet.
Wie wirkt sich die Pandemie auf Ihre Familie aus? Was sagen Sie Ihren Kindern?
Ich sage ihnen, sie müssen sich die Hände waschen, und ohne Masken dürfen sie nicht außer Haus gehen. Treffen mit Freunden sind fast an einem Nullpunkt, das ist ein Riesenproblem für Teenager. Aber sie sind tapfer. Die Ältere hat sich schon so auf den Tanzkurs gefreut – das kann jetzt alles nicht stattfinden.
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