Randale am Reichstag: "Angriff auf Herz der Demokratie"

Demonstration against the German government's COVID-19 restrictions in Berlin
Nach Eskalation bei der polizeilich aufgelösten Corona-Demonstration in Berlin meldeten sich Politiker aller Couleurs zu Wort. Erneut Proteste am Sonntag.

Die versuchte Erstürmung des Berliner Reichstagsgebäudes durch rechte Gegner der Corona-Schutzmaßnahmen hat eine Diskussion über den Umgang mit Extremisten ausgelöst. "Reichsflaggen und rechtsextreme Pöbeleien vor dem Deutschen Bundestag sind ein unerträglicher Angriff auf das Herz unserer Demokratie. Das werden wir niemals hinnehmen", sagte der deutsche Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier.

Er dankte den Polizisten, "die in schwieriger Lage äußerst besonnen gehandelt haben". Eine große Gruppe aggressiver Demonstranten gegen die Corona-Politik hatte am Samstagabend Absperrgitter am Reichstagsgebäude in Berlin überwunden. Sie stürmten die Treppe hoch und bauten sich triumphierend vor dem verglasten Besuchereingang auf. Dabei waren auch die von den sogenannten Reichsbürgern verwendeten schwarz-weiß-roten Reichsflaggen zu sehen, aber auch andere Fahnen. Anfangs standen nur drei Polizisten der grölenden Menge entgegen. Nach einer Weile kam Verstärkung, und die Polizei drängte die Menschen auch mit Hilfe von Pfefferspray zurück.

Demonstration against social and economic measures by Coronavirus pandemic

Großdemo aufgelöst

Zuvor hatten nach Schätzungen der Polizei knapp 40.000 Menschen aus ganz Deutschland weitgehend friedlich gegen die Corona-Politik demonstriert. Am Rande kam es allerdings vor allem vor der russischen Botschaft nahe dem Brandenburger Tor zu Angriffen von Reichsbürgern und Rechtsextremisten auf Polizisten. Aus einer Menge von 3.000 Menschen wurden Steine und Flaschen geworfen.

Nazisymbole und Sturm auf den Reichstag: So demonstriert Deutschland gegen die Coronamaßnahmen

Nachdem die Polizei ursprünglich die Demonstrationen verboten hatte, gaben erst Gerichte die Erlaubnis. Die Großdemonstration selbst wurde dann von der Polizei aufgelöst. Grund dafür war nach Angaben der Behörden "insbesondere die Nichteinhaltung der Abstandsregelungen". Bei Protesten Unter den Linden und vor dem Reichstagsgebäude gab es gewaltsame Auseinandersetzungen zwischen Demonstranten und Polizisten.

"Mindestabstände werden von Ihnen flächendeckend trotz wiederholter Aufforderung nicht eingehalten", hieß es am frühen Nachmittag in einer Polizei-Durchsage an die Demonstranten. "Aus diesem Grund besteht keine andere Möglichkeit, als die Versammlung aufzulösen." Bereits bis zur Mittagszeit hatten sich dort nach Polizeiangaben etwa 18.000 Menschen versammelt.

Sie skandierten Parolen wie "Wir sind hier, wir sind laut, weil man uns die Freiheit klaut" oder "Wir sind das Volk". Zunächst riefen die Veranstalter dazu auf, sich der Auflösung zu widersetzen. 

Am Nachmittag versammelten sich dann zehntausende Demonstranten an der Berliner Siegessäule. Anders als bei der aufgelösten Demonstration gab es laut Geisel an der Siegessäule "offenbar ein Bemühen, die Abstandsregelung einzuhalten". Bereits am frühen Abend verließen viele Teilnehmer die Kundgebung. Während der Abbauarbeiten am späten Abend standen laut einer Polizeisprecherin noch ein paar hundert Teilnehmer zusammen.

 

Bundespräsident Steinmeier betonte: "Unsere Demokratie lebt." Wer sich über die Corona-Maßnahmen ärgere oder ihre Notwendigkeit anzweifele, könne das tun, auch öffentlich, auch in Demonstrationen. "Mein Verständnis endet da, wo Demonstranten sich vor den Karren von Demokratiefeinden und politischen Hetzern spannen lassen."

Bundestagspräsident Wolfgang Schäuble (CDU) sagte der Deutschen Presse-Agentur: "Nach diesen Szenen sollte der Letzte verstanden haben, dass es auch Grenzen des Anstands gibt, wie weit man mitträgt, wer mit einem mitläuft. Der Verantwortung, sich bei seinem Protest nicht von Extremisten instrumentalisieren zu lassen, kann sich niemand entziehen." Dass es überhaupt zu diesem Angriff kommen konnte, "muss schnell und umfassend aufgearbeitet werden".

Der deutsche Innenminister Horst Seehofer (CSU) erklärte in der Bild am Sonntag: "Das Reichstagsgebäude ist die Wirkungsstätte unseres Parlaments und damit das symbolische Zentrum unserer freiheitlichen Demokratie. Dass Chaoten und Extremisten es für ihre Zwecke missbrauchen, ist unerträglich."

Außenminister Heiko Maas (SPD) twitterte: "Reichsflaggen vorm Parlament sind beschämend." SPD-Kanzlerkandidat Olaf Scholz schrieb: "Nazisymbole, Reichsbürger- & Kaiserreichflaggen haben vor dem Deutschen Bundestag rein gar nichts verloren." SPD-Generalsekretär Lars Klingbeil sagte, der Ältestenrat des Bundestages müsse klären, "wie Sicherheitskonzepte ausgesehen haben".

Grünen-Chef Robert Habeck nannte die Bilder vom Samstagabend erschütternd. Es gehöre zwar zur demokratischen Debatte, über Maßnahmen gegen die Ausbreitung von Corona zu diskutieren. Wer aber mit Rechtsextremisten, Rassisten und Antisemiten mitmarschiere, mache sich mit dem Hass gemein. "Niemand kann so tun, als hätte er nicht gewusst, bei wem er mitläuft", sagte Habeck der Funke-Mediengruppe.

Scholz: Solche Bilder verhindern

Der deutsche Finanzminister Olaf Scholz hat die Übergriffe von Rechten vor dem Reichstagsgebäude verurteilt und vor einer Wiederholung gewarnt. Es dürfe "nicht hingenommen werden, dass einige jetzt mit Symbolen aus einer schlimmen dunklen Vergangenheit, Flaggen, die nichts mit der modernen Demokratie unserer Bundesrepublik zu tun haben, vor dem Gebäude des Bundestages auftreten", so der SPD-Politiker.

Damit werde das wichtigste Symbol der Demokratie, das Parlament, missachtet. "Wir müssen alles dafür tun, dass solche Bilder vor dem Gebäude des Bundestages nicht mehr entstehen", erklärte der SPD-Kanzlerkandidat am Sonntag.

Scholz erklärte, dass ungeachtet der Ereignisse am Reichstag die meisten Bundesbürger hinter den Maßnahmen zur Eindämmung der Pandemie stünden. "Diese schlimmen Bilder dürfen von einer Sache nicht ablenken: Die überwiegende, ganz große Mehrheit der Bürgerinnen und Bürger dieses Landes ist klug und vernünftig und ist einverstanden mit all den Entscheidungen, die wir getroffen haben zum Schutz der Gesundheit der Bürgerinnen und Bürger und zum Wohl auch der Wirtschaftskraft unseres Landes und des sozialen Zusammenhalts."

AfD-Weidel: Ereignisse am Reichstag inakzeptabel

Auch die Fraktionsvorsitzende der AfD im Bundestag, Alice Weidel, hat die Vorfälle am Reichstagsgebäude kritisiert. "Es ist inakzeptabel, dass einige Chaoten nach der friedlichen Corona-Demonstration in Berlin die Polizei-Absperrungen vor dem Reichstag durchbrochen haben", erklärte sie.

Gleichzeitig bezeichnete sie dieses Verhalten als "genauso falsch wie der Missbrauch des Reichstages durch Greenpeace-Aktivisten für ihre Propaganda vor einigen Wochen". "Das Gebäude steht für den parlamentarischen Meinungsstreit im Plenarsaal und darf nicht als Objekt politischer Auseinandersetzungen auf der Straße missbraucht werden - egal von welcher Seite."

Initiatoren distanzieren sich

Der Initiator der großen Demonstration, Michael Ballweg von der Stuttgarter Initiative Querdenken, distanzierte sich von den Randalierern. "Die haben mit unserer Bewegung nichts zu tun." Querdenken sei eine friedliche und demokratische Bewegung, Gewalt habe da keinen Platz. Er verstehe aber nicht, warum der Berliner Innensenator "nicht entsprechende Polizeikräfte aufwartet, um solchen Aktionen zu begegnen" - zumal diese vorher bekannt gewesen seien, meinte Ballweg. "Warum ist er nicht in der Lage, das Gebäude zu schützen?"

Videos, die im Internet kursieren, zeigen, wie weit mehr als hundert jubelnder und grölender Menschen minutenlang auf und oberhalb der großen Treppe direkt vor der Tür des Reichstags stehen. Neben der Reichsfahne sind auch deutsche, amerikanische und russische Fahnen sowie Transparente zu sehen. Drei Polizisten versuchen, die Menge mit dem Schwenken von Schlagstöcken auf Abstand zu halten. Im Hintergrund ruft ein Mann: "Wir sind friedlich, wir sind friedlich." Ein anderer Mann schreit ständig: "Wahnsinn, Wahnsinn."

Polizei: "Können nicht immer überall präsent sein"

Der Berliner Polizeisprecher Thilo Cablitz versuchte noch am Abend eine Erklärung: "Wir können nicht immer überall präsent sein, genau diese Lücke wurde genutzt, um hier die Absperrung zu übersteigen, zu durchbrechen, um dann auf die Treppe vor dem Reichstag zu kommen." Eine umfassende Bilanz der Polizei zu der Demonstration am Samstag sollte im Lauf des Sonntags veröffentlicht werden.

Innensenator Andreas Geisel (SPD) hatte am Samstagabend berichtet, über den Tag verteilt seien rund 300 Menschen festgenommen worden, allein bei den Angriffen vor der russischen Botschaft etwa 200. Geisel bezeichnete die Ereignisse als vorhersehbar. "Es war erwartbar, was heute passiert ist", sagte er am Samstagabend in den ARD-"Tagesthemen". Die Polizei war mit rund 3.000 Beamten aus verschiedenen Bundesländern und von der Bundespolizei im Einsatz. Festgenommen wurde vor der russischen Botschaft auch der Vegan-Kochbuchauto Attila Hildmann, der sich selbst "ultrarechts" und einen Verschwörungsprediger nennt.

 

Erneut Proteste am Tag darauf

Am Sonntag versammelten sich erneut Gegner der Anti-Coronamaßnahmen in Berlin. In der Nähe der Berliner Siegessäule kam es laut Polizei zu einer nicht angemeldeten Versammlung von rund 2.000 Teilnehmern, die ganz überwiegend weder Abstände einhielten noch einen Mund-Nasen-Schutz trugen. Die Teilnehmer wurden mehrfach per Lautsprecher aufgefordert, den Bereich zu verlassen. Die Polizei erteilte Platzverweise. Zudem kam es zu Festnahmen. Am Brandenburger Tor war für Sonntag eine Kundgebung angemeldet mit etwa 2.500 Menschen, wie ein Polizeisprecher sagte. Zunächst sprach er von mehreren Hundert Menschen dort.

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