Der Internationale Gerichtshof in Den Haag forderte am Freitag mit großer Mehrheit den „sofortigen Halt“ aller Kämpfe bei Rafah im südlichen Gazastreifen. Zusätzlich wurden einige Auflagen verhängt, wie die Offenhaltung des Grenzübergangs in Rafah und die Ermöglichung von UN-Untersuchungen der Lage vor Ort.
Der Forderung des Antragstellers Südafrika nach einer vollständigen Kampfeinstellung im Gazastreifen kam das Gericht auch in diesem Eilantrag nicht nach. Wie schon zu Beginn des Hauptverfahrens im Februar. Israels Vorsorgemaßnahmen zum Schutz der Zivilbevölkerung seien „nicht überzeugend“, so die Richter. Die Hamas mit ihren Angriffen gegen die Versorgung der Zivilbevölkerung und deren Missbrauch als Schutzschild blieb unerwähnt.
Kritik aus Israel
In Israel wird der Richter-Entscheid als gezielte Einschränkung des eigenen Selbstverteidigungsrechts verstanden. Während israelische Städte und Dörfer weiter tagtäglich beschossen werden - aus dem Gazastreifen wie aus dem Libanon. Nach 1.200 Morden an Zivilisten sind 128 Geiseln und ihre Familien weiter tagtäglich Grausamkeiten der Hamas ausgesetzt.
Weltweit kommt es zu einem dramatischen Anstieg antisemitischer Ausschreitungen gegen Juden und offener Parteinahme für die Forderung, den Judenstaat zu vernichten. Ein Regierungssprecher in Jerusalem: „Keine Macht der Welt wird uns daran hindern, unsere Bürger zu verteidigen und die Hamas im Gazastreifen zu verfolgen.“
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Schon der Fahndungsantrag vor dem benachbarten Internationalen Strafgericht gegen Israels Premier Benjamin Netanjahu am Montag wurde in Israel als einseitig verurteilt. Kam er doch ausgerechnet durch den britischen Chefankläger Karim Khan. Der beschloss kurz nach seinem Amtsantritt 2021 die „Entpriorisierung“.
Gemischte Gefühle
Also die Hintanstellung aller Ermittlungen infolge mutmaßlicher Übergriffe westlicher Streitkräfte in Afghanistan. Im Gazastreifen vermied er diese Unterscheidung zwischen regulären Soldaten und Terroristen. Die Gleichzeitigkeit der Fahndungsanträge gegen die demokratisch gewählten israelischen Politiker mit denen der Hamas-Terroristen gilt in Israel als einseitig. Mord, Geiselnahme und Vergewaltigung mit offen erklärter Vernichtungsabsicht gleich mutmaßlich überzogenen militärischen Verteidigungsmaßnahmen?
Was auch unter Juristen gemischte Gefühle weckt. Doch nicht wie die öffentliche Meinung, haben Juristen ihren eigenen Blick auf die Entscheidung in Den Haag. Angesichts des schwindenden internationalen Ansehens erinnern ehemalige Oberrichter und Völkerrechtsexperten in Israel daran, dass ein schwindendes Ansehen der israelischen Justiz schon lange zu beobachten ist.
Vor allem nach neuen Gesetzen 2023 der Regierung Netanjahu zur „Justizreform“. Sie provozierte monatelange Proteste in Israel. Die Hamas und ihre Drahtzieher im Iran sahen darin Israels Schwäche. Was letztlich auch zum Angriff am 7. Oktober mit der Ermordung von 1.200 Zivilisten und den Geiselentführungen führte.
"Mehr Transparenz vonnöten"
Israel soll seine alten juristischen Stärken ausspielen, fordert der Ex-Justizminister Dan Meridor. Die Entscheidung des Gerichts in Haag könne auch als Möglichkeit genutzt werden, die eigene unabhängige Justiz wieder einzusetzen. Ist Israel doch der einzige Staat der Welt, der seinen amtierenden Premier vor Gericht stellte.
Zu sehr habe sich die Justiz in den letzten Jahren einschüchtern lassen. Jetzt sei es an der Zeit, die eigenen Fähigkeiten zu beweisen. So habe die Rechtsberaterin der Regierung alle Angriffe gegen die Unabhängigkeit der Justiz im Kampf um die Reform abgewehrt. „Doch ihre Aufsichtspflicht auch gegenüber der Militärjustiz dabei vernachlässigt“, findet der Experte für Internationales Recht, Michael Sfard. Die Rechtsberaterin wiederum verweist auf Dutzende laufende Ermittlungen der Militärstaatsanwaltschaft gegen israelische Soldaten. "Sie laufen", so Sfard, "doch mehr Transparenz ist vonnöten."
Der frühere Oberrichter Menny Masus bedauert auch das Zaudern des jetzigen Obersten Gerichts angesichts empörender Übergriffe israelischer Siedler gegen palästinensische Nachbarn und sogar gegen israelische Soldaten. „Wir können und müssen das Vertrauen der internationalen Justiz in unsere eigene zurückgewinnen. Dann wird das Internationale Gericht seine Zuständigkeit verlieren.“
Netanjahus Weigerung
Israels isolierte internationale Stellung wird aber auch durch die politische Weigerung Netanjahus verursacht, jede politische Bewegung in Richtung eines neuen Friedensprozesses mit den Palästinensern zu verhindern. Wie ihn auch Washington befürwortet. Dadurch wird ein Wechsel der Hamas-Machthaber im Gazastreifen nach Kriegsende durch neue Kräfte verhindert.
Wie etwa durch Truppen befreundeter arabischer Anrainer, letztlich sogar Saudi-Arabien, zusammen mit der palästinensischen Autonomie-Polizei aus dem Westjordanland. Netanjahu macht keinen Unterschied zwischen der Autonomieregierung und der Hamas. Was wiederum den Richtern in Den Haag die Unterscheidung zwischen Netanjahu und Hamas-Führer Jechije Sinwar zu erschweren scheint.
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