Was man über das Massaker im ukrainischen Butscha weiß
Leichen auf Gehsteigen, am Straßenrand oder verscharrt in Hinterhöfen und Massengräbern - der Mord an Hunderten Zivilisten in der ukrainischen Kleinstadt Butscha mutmaßlich durch russische Truppen sorgt weltweit für Entsetzen. Der KURIER hat die wichtigsten Informationen für Sie zusammengefasst.
Was ist in Butscha passiert und wie sieht es aktuell dort aus?
Nach dem Abzug der russischen Truppen aus der zuvor besetzten Stadt wurden dort am Wochenende Hunderte tote Zivilisten gefunden. Viele lagen mit am Rücken gefesselten Händen und Kopfschüssen auf den Straßen, sie wurden gezielt getötet.
Die Gesichter vieler Leichen sahen wächsern aus, was darauf hindeutet, dass sie bereits seit Tagen dort lagen, wie Nachrichtenagenturen berichteten. Es wurden auch verscharrte Leichen entdeckt. Ein Massengrab wurde vor einer Kirche ausgehoben, was auf Satellitenaufnahmen ersichtlich ist.
Wer sind die Opfer?
Großteils waren die Toten Burschen und Männer im wehrfähigen Alter, also zwischen 16 und 60 Jahren. Es sind aber auch Frauen und Kinder unter den Opfern.
Der Bürgermeister von Butscha, Anatoly Fedoruk, sprach von einem 14-jährigen Buben, der getötet wurde. Nach Medienberichten von Montagfrüh wurden bisher mehr als 330 Leichen geborgen. Die Suche nach weiteren Opfern dauert an.
Was berichten Augenzeugen?
Laut Bewohnern von Butscha wurden die Menschen von russischen Soldaten erschossen. Journalisten namhafter Medienorganisationen wie der BBC oder der AFP legten entsprechende Foto- und Videoaufnahmen vor. „Leute auf der Straße wurden einfach abgeknallt“, zitiert die ARD einen Mann: „Die haben einfach geschossen, ohne Fragen zu stellen.“
Gegenüber Bild sagte eine Frau, zuerst sei ihre Doppelhaushälfte beschossen worden, dann hätten russische Soldaten sie und ihren Mann ins Freie gezwungen. Die Soldaten redeten – entsprechend der russischen Kriegspropaganda – davon, auf der Suche nach „Nazis“ zu sein. „Sie packten meinen Mann, zogen ihm den Pullover ab, drückten ihn auf die Knie und schossen ihm in den Kopf“, berichtet die Frau.
„Mein Mann wurde 40 Jahre alt, er hat seinen Geburtstag am 14. März nicht mehr erlebt. Er lag dort, wo sie ihn erschossen haben, bis wir sicher waren, dass die Soldaten weg waren.“ Die Frau erzählt auch, dass während der russischen Besatzung Scharfschützen auf Menschen geschossen hätten.
Warum zeigt der KURIER keine Fotos aus Butscha?
Anders als andere Medien zeigen kurier.at und die Tageszeitung KURIER keine Bilder der Leichen aus Butscha. Wir wollen die Würde der Getöteten wahren. Zudem sind die Bilder nicht allen Leserinnen und Lesern zumutbar – etwa Kindern oder Menschen mit Kriegserfahrung oder Traumata.
Welche Rolle spielte Butscha im Krieg?
Butscha ist mit seinen rund 37.000 Einwohnern zwar eine relativ kleine Stadt, wegen seiner Nähe zu Kiew aber wie auch Irpin oder Hostomel strategisch wichtig. Eines der – verfehlten - russischen Kriegsziele war bekanntlich die schnelle Einnahme der ukrainischen Hauptstadt. Dafür wurde versucht, umliegende Städte und Dörfer unter Kontrolle zu bringen.
Butscha war bereits in den ersten Kriegstagen Ziel massiver Angriffe und konnte von den russischen Truppen bald eingenommen werden. Mehr als einen Monat war die Stadt besetzt, die Bewohner waren bei eisigen Temperaturen teils ohne Strom und Wasser eingeschlossen. In den vergangenen Tagen konnten ukrainische Einheiten Butscha zurück erobern.
Wurden in anderen Städten auch Zivilisten ermordet?
Insgesamt sollen im Gebiet rund um Kiew bisher mehr als 400 tote Zivilisten geborgen worden sein. Die Zahl könnte noch steigen, da zuletzt auch andere Ortschaften in der Region von den russischen Truppen zurückerobert werden konnten.
Andere Regionen stünden weiter unter russischer Kontrolle, wie der ukrainische Präsident Wolodimir Selenskij sagte. Dort könnten „noch mehr Tote und Misshandlungen“ bekannt werden.
Was sagt die russische Regierung?
Moskau bestreitet, etwas mit dem Massaker zu tun zu haben, und hat eigene Ermittlungen angekündigt. Es handele sich bei den Vorfällen in Butscha um einen „erfundenen Angriff“ mit dem Ziel, Russland zu diskreditieren, sagte Außenminister Sergej Lawrow. Während der russischen Besatzung sei niemandem in Butscha etwas zu Leide getan worden, hatte es bereits zuvor aus dem Kreml geheißen.
Russland forderte am Montag eine sofortige Sondersitzung des UN-Sicherheitsrats, in dem es Beschlüsse durch sein Vetorecht maßgeblich bestimmen kann. Großbritannien, das derzeit den Vorsitz in dem Gremium hat, lehnte das ab. Die Sitzung soll morgen, Dienstag, stattfinden.
Was will Kiew jetzt tun?
Die ukrainischen Behörden haben mit der Untersuchung möglicher Kriegsverbrechen durch die russischen Invasionstruppen begonnen, etwa durch Befragungen, das Sichern von Spuren und durch Obduktionen. Dabei sollen sie in den nächsten Tagen internationale Hilfe bekommen. „Das ist eine Hölle, die dokumentiert werden muss, damit die Unmenschen, die sie geschaffen haben, bestraft werden“, sagte die ukrainische Generalstaatsanwältin Iryna Wenediktowa.
Die Regierung forderte erneut auch ein schärferes Vorgehen gegen Russland.
Warum wird Butscha mit Srebrenica verglichen, was ist dort passiert?
Die bosnische Kleinstadt Srebrenica ist als Schauplatz des schwersten Kriegsverbrechens in Europa seit 1945 in die Geschichte eingegangen. Hier wurden während des Bosnienkriegs im Juli 1995 mehr als 8.000 Menschen, fast ausschließlich Burschen und Männer, von Einheiten der Republika Srpska unter dem Kommando von Ratko Mladić ermordet. Verscharrt wurden die Toten in Massengräbern, von denen immer noch nicht alle gefunden werden konnten.
Die Rolle niederländischer UNO-Soldaten, die die Morde nicht verhinderten, ist bis heute umstritten. UN-Gerichte klassifizierten das Massaker in Srebrenica als Völkermord (Genozid).
Wie will die internationale Gemeinschaft nach dem Massaker in Butscha vorgehen?
Viele Staaten weltweit sowie EU und UNO verurteilen die Vorgänge aufs Schärfste, bezeichnen sie als Kriegsverbrechen bzw. Genozid oder fordern Untersuchungen. „Wir schlagen eine internationale Kommission vor, um dieses Verbrechen des Völkermords zu untersuchen“, sagte etwa Polens Regierungschef Mateusz Morawiecki.
Zahlreiche andere Länder, darunter Deutschland, Frankreich und Großbritannien, haben sich für neue Sanktionen gegen Russland ausgesprochen. Es gebe sehr klare Hinweise auf Kriegsverbrechen in der Ukraine, für die die russische Armee verantwortlich zu sein scheine, sagte der französische Präsident Emmanuel Macron.
Kann Wladimir Putin zur Verantwortung gezogen werden?
Bisher beschäftigen sich zwei internationale Gerichte mit den Vorgängen in der Ukraine: Der Internationale Gerichtshof (IGH bzw. ICJ) der Vereinten Nationen und der Internationale Strafgerichtshof (IStGH bzw. ICC), beide im niederländischen Den Haag ansässig.
Der IstGH ermittelt gegen Einzelpersonen und hat Untersuchungen zu möglichen Kriegsverbrechen und Verbrechen gegen die Menschlichkeit in der Ukraine eingeleitet. In diesem Zusammenhang ist auch eine Anklage gegen Kremlchef Putin und die Verhängung eines Haftbefehls denkbar.
Allerdings müsste dafür klar nachweisbar sein, dass Putin persönlich Kriegsverbrechen angeordnet hat und diese nicht etwa auf Initiative lokaler Befehlshaber begangen wurden. Zudem müsste der russische Präsident für eine Festnahme gestürzt und von einer neuen Regierung ausgeliefert worden sein oder Russland verlassen haben.
Auch ist nicht gänzlich klar, ob der IstGH überhaupt für die Ukraine verantwortlich ist, da sowohl Kiew als auch Moskau das Gericht nicht rechtlich anerkannt haben.
Und was macht der IGH?
Der Internationale Gerichtshof kann bei Konflikten zwischen Staaten angerufen werden, was die Ukraine und mehrere andere Länder angesichts der russischen Invasion getan haben. Das höchste Gericht der UNO prüft derzeit, ob in der Ukraine ein Völkermord passiert. Es hat jüngst angeordnet, dass Russland bis zur Klärung der Vorwürfe alle militärischen Handlungen in der Ukraine einstellen müsse. Bis zu einem endgültigen Urteil werden vermutlich Jahre vergehen.
Urteile des IGH sind zwar bindend, allerdings fehlen dem Gericht die Mittel, sie auch durchzusetzen. Es könnte den UN-Sicherheitsrat um Unterstützung bitten, in diesem hat Russland aber wie bereits erwähnt ein Vetorecht. Daher zeigte Moskau bislang keinerlei Interesse am IGH-Verfahren.
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