Wie Putins Abnützungskrieg weitergehen könnte
Gegenstöße der ukrainischen Streitkräfte westlich und östlich von Kiew, weitere erfolgreiche Angriffe auf russische Nachschubwege. Die Stadt Sumy – seit Beginn des russischen Angriffskriegs vor mehr als einem Monat belagert – noch immer in ukrainischer Hand, ebenso die Stadt Tschernihiw: Im Norden fügen die Streitkräfte der Ukraine den russischen Truppen schwere Verluste zu. Auch der russische Vormarsch westlich des Dnepr scheitert bisher am starken Widerstand des Landes, an der Front am Donbass konnten die ukrainischen Truppen das Gebiet mehr oder minder halten, haben den Vorteil einer jahrelang ausgebauten Verteidigungsstellung.
Und dennoch brachte der ukrainische Präsident Wolodimir Selenskij am Sonntag zum wiederholten Male eine mögliche Neutralität der Ukraine ins Spiel. Natürlich nur, wenn Russland abziehe. Trotz aller Durchhalteparolen und heroischen Videobotschaften ist dem ukrainischen Präsidenten klar: Bis auf Gegenstöße und Abwehr von Angriffen hat die ukrainische Armee keine realistische Aussicht darauf, die russischen Truppen aus dem Staatsgebiet zu vertreiben. Schon jetzt bitten Politiker und Offiziere um mehr Mittel – Jeeps, Panzer und andere Gefährte –, damit eine groß angelegte Gegenoffensive überhaupt denkbar wäre. Hinzu kommt, dass die russischen Streitkräfte über mehr Ressourcen verfügen.
Noch mehr Bombardements
Seit Tagen wird immer offensichtlicher, dass Russland es auf einen sogenannten „Abnützungskrieg“ herauslaufen lässt: Festgefrorene Fronten, massiver Einsatz von Artillerie, weitere und stärkere Bombardierung von Städten. Immer wieder zerstören die Bomben und Raketen Nachschub-, Munitions- und Tanklager. Moskau scheint den Krieg darauf herauslaufen zu lassen, wer „den längeren Atem hat“, während Zivilisten in allen größeren ukrainischen Städten in Angst und Schrecken leben müssen. Die russischen Raketen können jeden Winkel im Land treffen.
„Die Russen wurden in der ersten Angriffswelle die Opfer ihrer eigenen Propaganda – nun müssen wir schauen, dass wir nicht die Opfer unserer Gegen-Propaganda werden“, sagt Taras Chmut, Leiter der „Come Back Alive“-Stiftung, die für die ukrainischen Streitkräfte Millionen Dollar an Spenden gesammelt hat, in einem Interview. Es ist nur eine Frage von Tagen, vielleicht Wochen, ehe die Stadt Mariupol endgültig von den russischen Streitkräften in Besitz genommen wird. Geschieht das, dürfte der Druck auf die Front am Donbass massiv zunehmen. Und daraus ergeben sich die hier angeführten Szenarien.
1. Diplomatische Lösung (vorerst unrealistisch)
Heute, Dienstag, sollen einander ukrainische und russische Diplomaten in der Türkei treffen, um über eine mögliche Lösung des Konfliktes zu sprechen. Zusätzlich stellte der russische Außenminister Sergej Lawrow ein Treffen zwischen Selenskij und Putin in den Raum. Am Freitag hatte Russland behauptet, der Donbass wäre das neue Hauptziel des Angriffskrieges, gleichzeitig hatte Selenskij am Sonntag einmal mehr eine Neutralität der Ukraine ins Spiel gebracht.
Dennoch dürften die Differenzen zu groß sein, als dass sich in Bälde eine Lösung abzeichnen könnte.
2. Eroberung der Ostukraine
Bis auf Cherson konnten die russischen Streitkräfte noch keine einzige Oblast-Hauptstadt einnehmen, werden derzeit an einigen Fronten zurückgeschlagen. Dennoch ist davon auszugehen, dass Russland in einem Abnützungskrieg mehr Ressourcen zur Verfügung hat. Schon jetzt erkämpfen die russischen Truppen vor allem im Südosten des Landes langsam, aber sicher strategisch wichtige Orte wie Izjum und drohen weiterhin die ukrainischen Streitkräfte an der Front zum Donbass einzukesseln. Die Belagerung Kiews würde in dem Fall dazu dienen, ukrainische Kräfte zu bündeln.
3. Gründung neuer „Volksrepubliken“
In Cherson versucht der Kreml bereits (bis jetzt ohne Erfolg), eine weitere „Volksrepublik“ nach Vorbild von Donezk und Lugansk ausrufen zu lassen. Der Widerstand der Bevölkerung scheint groß, weswegen russische Polizisten vor Ort sind, Protestierer wie Politiker gefangen nehmen und verschwinden lassen. Gelänge es Putin, im Oblast Cherson – und eventuell in weiteren – Marionettenregierungen zu installieren, etwaige „Referenden“ abzuhalten, könnte er diese Oblaste in Friedensverhandlungen zumindest als Faustpfand verwenden und die Ukraine damit nachhaltig destabilisieren.
4. Putin stürzt (sehr unrealistisch)
Weitere Sanktionen des Westens, Druck auf russische Oligarchen, massive wirtschaftliche Probleme für die Bevölkerung Russlands: „Irgendwann erhebt sich das Volk doch“, scheint so manchem die logische Konsequenz. Tatsächlich sind die Sanktionen hart, doch die russische Bevölkerung wurde und wird seit Jahrzehnten darauf eingestimmt, dass „der Westen“ danach trachte, ihre Kultur, ihren Lebensweg zu zerstören. „Vor allem in solchen Situationen ist die russische Bevölkerung extrem leidensfähig“, sagt etwa der Experte Oberst Markus Reisner.
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