Wie weit diese erneute Offensive reichen soll, ist noch fraglich: Versucht der russische Präsident Wladimir Putin nach wie vor, die ukrainischen Gebiete östlich des Dnepr einzunehmen, oder beschränkt er sich vorerst darauf, die etwa 30.000 ukrainischen Soldaten an der Front einzukesseln und zu vernichten? „Putin braucht jetzt vor allem einen Sieg. Einen Sieg, den er nicht nur in Russland, sondern auch in der Welt verkaufen kann“, sagt Oberst Markus Reisner zum KURIER.
In den vergangenen Tagen hatte die russische Artillerie vor allem die Eisenbahnverbindungen, die für den Transport schwerer Waffen wie etwa Panzern notwendig wären, zerstört. Somit dürfte der Nachschub mit Panzern für die am Donbass eingesetzten ukrainischen Kräfte nicht mehr funktionieren. Auch die Raketenangriffe auf Lwiw (Lemberg) am Montag hatten Nachschublager mit Waffen und Munition aus dem Westen zum Ziel.
Dennoch gelten die ukrainischen Stellungen im Donbass als stark befestigt, durch Minen gesichert – und es ist durchaus denkbar, dass die Front hält. Würde aber der russische Angriff auch dort scheitern, würde das eine Blamage für die russische Armee bedeuten. „Bei all der militärischen Lage soll allerdings niemals vergessen werden, dass sich etwa 70.000 Zivilisten in diesem Gebiet befinden – und in welcher albtraumhaften Situation diese jetzt stecken“, gibt Reisner zu bedenken und fährt fort: „Ob ein Angriff auf die Stadt Dnipro folgt, hängt davon ab, ob es den ukrainischen Truppen weiterhin gelingt, eine Einkesselung zu vermeiden.“
Doch auch der russische Nachschub ist nach wie vor gefährdet: Partisanengruppen im Raum Melitopol reklamierten einen erfolgreichen Angriff auf Munitionsdepots für sich – durch ihre Aufklärung sei es der ukrainischen Artillerie möglich gewesen, zehn Munitionstransporter zu vernichten. „Im Gegensatz zu den Angriffen im Norden sind die ukrainischen Spezialeinsatzkräfte nicht durch dichten Wald geschützt – hier müssen sie im urbanen Raum operieren, scheinen das aber gut adaptiert zu haben“, erklärt Reisner.
An anderer Front, in der Stadt Mariupol, dürfte den russischen Streitkräften in Bälde der Sieg gelingen. Laut prorussischen Quellen begannen Spezialeinsatzkräfte mit der Erstürmung des Stahlwerks Asovstal, in dem sich etwa 2.500 Kämpfer sowie – laut ukrainischen Medien – 1.000 Zivilisten aufhalten sollen. Ein von Russland gestelltes Ultimatum zur Kapitulation ließen die Ukrainer verstreichen – es wird mit weiteren erbitterten Kämpfen gerechnet. „Die ukrainischen Kämpfer in Asovstal wissen, dass sie kein Pardon erwarten können. Sie werden kämpfen, bis sie keine Munition, keine Vorräte mehr haben“, sagt Reisner. „Allerdings ist ein großer Teil der russischen Soldaten bereits außerhalb der Stadt und steht für die Offensive bereit“, sagt Reisner.
Luftangriffe und starker Artilleriebeschuss sind seit Beginn des Angriffskrieges in Charkiw bittere Normalität. Auch am Dienstag gab es heftigen Beschuss auf die Stadt – und dennoch haben die ukrainischen Streitkräfte dort eine überraschende Gegenoffensive gestartet: In den vergangenen Tagen konnten sie die russischen Soldaten mit Gegenangriffen zurückdrängen.
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