Wie aber kam es zum Unglück?
Die Widersprüche zum Hergang häufen sich. Besonders in den Angaben der griechischen Küstenwache gibt es Ungereimtheiten. Die offizielle Erzählung der griechischen Behörden lautet, dass die italienischen Behörden sie schon am Dienstag über ein voll besetztes Fischerboot im griechischen Such-und Rettungsbereich informiert haben. Das geht aus einer Mitteilung der Küstenwache hervor.
Ein Flugzeug der EU-Grenzschutzagentur Frontex habe das Boot daraufhin 47 Seemeilen südwestlich der Halbinsel Peloponnes lokalisiert. Sowohl die griechische Küstenwache als auch vorbeifahrende Frachter hätten den Passagieren per Funk wiederholt Hilfe angeboten, diese aber abgelehnt worden. Weil das Boot nach Italien wollte, heißt es von der griechischen Küstenwache.
Am Donnerstag hieß es dann seitens der griechischen Küstenwache, sie hätten erst eingreifen können, als das überfüllte Boot in Seenot geraten sei, weil es sich in internationalen Gewässern befunden habe.
War das Boot nun in der griechischen Such- und Rettungsregion oder in internationalem Gewässer? Beides ist nicht möglich. Zumindest nicht zum gleichen Zeitpunkt.
Unterlassene Hilfe trotz Pflicht zur Rettung
Außerdem stellt sich die Frage, warum die griechischen Behörden nicht trotzdem eingegriffen haben. Denn selbst, wenn sich das Boot außerhalb der Zone befunden habe, in der die griechische Küstenwache das Boot polizeilich anhalten darf, haben alle Kapitäne und Kapitäninnen die Pflicht im Falle der Seenot zu helfen - auch im internationalen Gewässer, das sieht das internationale Regulatorium vor. Die griechische Küstenwache gibt an, dass sie erst eigreifen durften, als das Boot in Seenot geraten ist, weil es sich in internationalen Gewässern befunden habe.
Ist diese Argumentation rechtens?
Nein. Das ist nicht richtig. Denn es ist nicht erst Seenot, wenn das Boot untergeht und die ersten Menschen ertrinken. Seenot ist laut International Convention on Maritime Search and Rescue eine Situation, in der Gefahr für Leib und Leben droht und daher sofort Hilfe nötig ist. Eine genauere Legaldefinition gibt es nicht.
Die Frontex-Verordnung der EU definiert für Seenot und damit der Pflicht zur Rettung folgende Umstände:
• Unzureichende Versorgungslage, aufgrund derer die nächste Küste nicht erreicht werden kann
• Überbeladung mit Passagieren
• Bedarf akuter medizinischer Versorgung
• Schlechte Wetter- und Seebedingungen
Die griechische Küstenwache, die das überladene Boot eigenen Angaben zur Folge schon Tage begleitete, hätte also auf jeden Fall die Pflicht zur Rettung gehabt. Das sagt auch Asylexperte Lukas Gahleitner-Gertz von der Asylkoordination zum KURIER.
Gleiches argumentiert Griechenlands Oppositionsführer und Ex-Ministerpräsident Alexis Tsipras. Er sagte gegenüber dem Guardian bei einem Besuch im Hafen von Kalamata, Überlebende hätten ihm gesagt, sie hätten um Hilfe gerufen. "Welches Protokoll verlangt nicht die Rettung eines überladenen Bootes kurz vor dem Untergang?"
Schwere Vorwürfe gegen Küstenwache
Das führt uns zur zweiten großen Frage und einem schweren Vorwurf: Hat die griechische Küstenwache das überladene Schiff aus der griechischen Such- und Rettungsregion weggeschleppt, in internationales Gewässer? Handelt es sich dabei um einen illegalen Pushback? Es ist zumindest merkwürdig, dass das Boot am Dienstag laut Frontex im griechischen Seeraum war und als es am Mittwoch "plötzlich" kenterte, laut griechischer Küstenwache, in internationalem Gewässer.
Am Donnerstag sagt ein ehemaliges griechisches Mitglied des Europäischen Parlaments, Kriton Arsenis, vor dem Krisenzentrum in Kalamata, er habe mit Überlebenden gesprochen und diese hätten berichtet, das Boot sei gesunken, als es im Schlepptau der griechischen Küstenwache war. "Das Boot der Geflüchteten war mit einem Seil am Schiff der Küstenwache befestigt", erklärt Arsenis. "Überlebende haben uns erzählt, die Küstenwache sei die ganze Zeit vor Ort gewesen. Auch als Menschen ertrunken sind", berichtet der zur SPE-gehörende Arsenis.
Der nächste illegale Pushback?
Mittlerweile fragt auch der deutsche EU-Parlamentarier Erik Marquardt (Grüne) öffentlich auf Twitter, ob es sich hierbei um einen Pushback gehalten habe.
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Erst im Mai wurde die griechische Küstenwache erstmals bei einem illegalen Pushback zurück aufs offene Meer von der New York Times gefilmt. "Die griechische Küstenwache gilt nicht unbedingt als vertrauenswürdige Quelle. Man denke an die illegalen Pushbacks, die jahrelang geleugnet wurden, für die wir mittlerweile einen verifizierten Videobeweis haben", sagt auch Judith Kohlenberger im KURIER.
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