Wann sind Sie zum ersten Mal Zeuge dieser Pushbacks geworden?
Ich bin vor zweieinhalb Jahren, nach dem Feuer von Moria, als Helfer nach Lesbos gekommen. Schon damals gab es Geschichten, wie die griechische Polizei mit den Menschen nach deren Ankunft umgeht, dass dort Verbrechen begangen würden. Ich wollte mir selbst ein Bild davon machen, und wurde unzählige Male Zeuge: Wie diese maskierten Einheiten kommen, mit Autos und Vans mit verdunkelten Scheiben, ohne Kennzeichen, mit Vorhängeschlössern vor der Hintertür, wie die Küstenwache mit einer Wärmebilddrohne hilft, die Geflüchteten, die sich im Gebüsch verstecken, zu finden. Wie die Polizei versucht, "Ärzte ohne Grenzen" daran zu hindern, zu den Menschen zu gelangen, die festgenommen werden und denen das Ansuchen um Asyl verwehrt wird, um sie dann im Meer auf einem Rettungsfloß wieder auszusetzen.
Mir wurde klar, dass all diese Geschichten nicht nur stimmen, sondern dass es einen gewaltigen, organisierten Rechtsbruch vom griechischen Staat und der griechischen Exekutive gibt.
Und Sie haben sich entschieden, das zu dokumentieren?
Normalerweise ruft man bei einem Verbrechen die Polizei. Das war nicht möglich, weil die Polizei Täter, zumindest Mittäter ist.
Wie sind Sie dann vorgegangen?
Es ist ein Wettlauf gegen die Zeit: Wer findet die Menschen zuerst? Helfer und Polizei suchen nebeneinander, da kommt man den Entführern, mit Sturmhaube und Kabelbinder am Gürtel, um die Menschen zu fesseln, sehr nahe. So sind die Fotos entstanden.
Gleichzeitig habe ich recherchiert, welche Autos sie benutzen, welche Routen sie wählen, wo sie diese Deportationen machen, welches Schiff sie verwenden. Das hat noch nie jemand beantworten können. Allen Menschen, die so entführt worden sind, wurden zuvor die Handys abgenommen, sie hatten keine Ahnung, wo sie sich befinden. Deswegen war der wichtigste Teil der Recherche, herauszufinden, wo sie das tun.
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Hatten Sie Hilfe bei der Recherche?
Nein, es gab keine Informanten, keine inoffiziellen Kontakte. Der weltweite Grundsatz, dass Exekutivbeamte ihre Verbrechen gegenseitig decken und schweigen, gilt auch in Griechenland.
Wie lange hat das alles gedauert?
Die Recherche, die Dokumentation, etwa sechs Monate. Ich habe mit einem Teleskop und einer Kamera mit einem 3.000 Millimeter Objektiv gefilmt, da die Distanz doch zwischen 500 Metern und 15 Kilometern betrug.
Gab es auch mal Situationen, die gefährlich für Sie waren?
Am gefährlichsten war wohl der 11. April, als ich es geschafft habe, diese Deportation zu filmen. Ich weiß nicht, was passiert wäre, wenn sie mich entdeckt hätten. Offiziell ist so ein Vorgehen ja auch in Griechenland ein Rechtsbruch. Da hätten sich die Täter schon denken können, dass dies niemals rauskommen darf, und hätten wohl dafür auch weitere Verbrechen begangen.
Welche persönlichen Konsequenzen hat die Recherche für Sie?
Ich hatte Griechenland verlassen, bevor die New York Times ihre Anfragen und Statements an die EU-Kommission und die griechische Regierung verschickte (die nicht antwortete, Anm.). Der griechische Rechtsstaat ist mittlerweile schwer korrumpiert, Verfahren gegen Menschen, die Flüchtlingen helfen, werden angestrengt. Die Anschuldigung lautet dann oft Beihilfe zur Schlepperei. Ich bin derzeit in Österreich und habe Anzeigen bei der Europäischen Staatsanwaltschaft und bei OLAF, der EU-Anti-Betrugsbehörde, erstattet. Ich würde mich derzeit nicht mit einem potenziell fabrizierten Verfahren in Griechenland herumschlagen wollen: Ich habe absolut nichts Illegales getan, war auf öffentlichem Grund, und habe ein Verbrechen gefilmt.
Was müsste getan werden in der Flüchtlingsdebatte in der EU?
Kurzfristig müssen solche Verbrechen unterbunden werden – das sind Rechtsbrüche. Wir haben gewaltige Herausforderungen an den Grenzen, die EU-Länder müssen mehr zusammenhelfen. Griechenland, Italien und Spanien sind derzeit komplett auf sich alleine stellen.
Was mir alle Menschen sagen, die ich auf ihrer Flucht kennengelernt habe in den vielen Jahren: Sie wollen nicht hier sein. Aber sie müssen fliehen, wegen Krieg, Vertreibung, Menschenrechtsverbrechen oder absoluter Perspektivenlosigkeit. Wir alle wollen ja am liebsten in unserer Heimat leben, wo unsere Familie ist, unsere Freunde, unser Klima, unser Essen, unsere Sprache gesprochen wird. Deswegen müssen wir vor Ort ansetzen, dürfen keine Kriege fördern, keine Waffen liefern, die Länder, allen voran durch unsere Konzerne, nicht länger ausbeuten.
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