Seit dem Tod einer jungen Frau in Polizeigewahrsam herrscht im Iran Ausnahmezustand. Vordergründig geht es um den Kopftuchzwang. Doch die Ursachen für die Frustration liegen tiefer.
Mahsa Amini wird von Sittenwächtern in ein Auto gezerrt. Ihr Kopf schlägt dabei mit voller Wucht an den Türrahmen. Was danach passiert, ist unklar. Fest steht, dass Amini kurze Zeit später stirbt. Der Vorwurf lautet, dass massive Gewalt durch die Sittenpolizei zum Tod der 22-Jährigen geführt hat. Diese weist die Anschuldigungen entschieden zurück und spricht von plötzlichem Herzversagen. Doch dass eine junge Frau einfach so tot zusammenbricht, glauben viele Menschen im Iran nicht.
Seit dem Tod von Mahsa Amini am Freitag vergangener Woche herrscht in dem Land Ausnahmezustand. Tausende Menschen gehen täglich landesweit auf die Straßen. Sie protestieren gegen die Sittenpolizei und die konservativ-religiöse Regierung. Auf Videos, die im Internet kursieren, sieht man Frauen, die öffentlich ihre Kopftücher verbrennen oder sich aus Solidarität die Haare abschneiden. Nach Angaben des örtlichen Polizeichefs sind bereits mehr als 700 Menschen festgenommen worden. Zudem kamen Dutzende Menschen ums Leben. Der als Hardliner geltende iranische Präsident Ebrahim Raisi forderte ein hartes Vorgehen gegen die regierungskritischen Demonstranten.
Eine wichtige Rolle spielen die sozialen Medien. Sie dienen der Mobilmachung. Es kommt also nicht von ungefähr, dass die iranische Regierung am Donnerstag Instagram und Whatsapp weitgehend abgeschaltet hat.
Straftat Lippenstift
Auch Soli Kiani hat als Jugendliche Erfahrungen mit den Sittenwächtern gemacht. „Jede Generation, die nach 1979 im Iran auf die Welt gekommen ist und liberaler denkt, ist mit der Sittenpolizei in Konflikt gekommen. Ich wurde zweimal festgenommen. Einmal, weil meine Cousine und ich Lippenstift aufgetragen haben. Das zweite Mal bin ich bloß mit meiner Freundin spazieren gegangen. Das hat gereicht, um mich festzunehmen.“ Die iranisch-stämmige Künstlerin lebt seit mehr als 20 Jahren in Österreich. In ihrer Arbeit setzt sie sich mit der sozialen, politischen und religiösen Alltagsrealität im Iran auseinander. Über die sozialen Medien verfolgt sie intensiv die Geschehnisse im Iran, wo ihre Familie heute noch lebt.
Die Proteste sieht sie mit verhaltener Hoffnung: „Natürlich wünsche ich mir, dass sich im Iran endlich etwas ändert. Aber ich weiß nicht, ob das noch zu meinen Lebzeiten der Fall sein wird. Im Iran gibt es keine Menschenrechte.“
Rüdiger Lohlker, Islamwissenschafter am Institut für Orientalistik der Universität Wien, gibt sich ebenfalls skeptisch. „Proteste wurden in der Vergangenheit immer erfolgreich niedergeschlagen“, sagt er. Etwa 2009 nach der Wiederwahl von Mahmud Ahmadineschad zum Präsidenten. Oder 2017 und 2018 aufgrund der Wirtschaftspolitik seines Nachfolgers Hassan Rohani. Für die Machthaber gelte, nicht zu lange zuzuwarten und Widerstand im Keim zu ersticken.
Was sich in den vergangenen Jahren tatsächlich geändert habe: Die Gewalt werde drastischer, meint Künstlerin Kiani. Frauen würden verstärkt festgenommen. „Frauen sind immer geschlagen und eingesperrt worden, aber eine derartige Brutalität ist neu.“
Land der Krisen
Iran-Experte Rüdiger Lohlker sieht die Proteste als Resultat einer gesamtgesellschaftlichen Krise. „Es gibt eine massive Wirtschaftskrise aufgrund der Sanktionen. Corona hat das Land heftig getroffen. Und im Südwesten des Landes wirkt sich die Klimakrise stark aus. Die Regierung reagiert auf all das nicht. Und diese Frustration hat sich nun am tragischen Tod der Frau entzündet.“
Was auf den Videos der Proteste auffällt: Unter den Demonstrierenden befinden sich viele junge Männer. Das liege nicht nur an der generellen Unzufriedenheit, sagt Soli Kiani. „Viele junge Männer im Iran wünschen sich eine gleichberechtigte Gesellschaft. Mir kommt vor, dass Feminismus bei den meisten europäischen Männern sehr negativ behaftet ist. Im Iran gibt es wahrscheinlich mehr Feministen als in Österreich.“
Was sie sich vom Westen wünscht, ist mehr Solidarität. Denn sie hat wenig Verständnis dafür, wenn westliche Politikerinnen bei Staatsbesuchen im Iran Kopftücher aufsetzen. „Man lässt dadurch die Frauen im Iran, die verpflichtenden Kleidervorschriften unterworfen sind, gewissermaßen im Stich.“
Westliche Unterwerfungsgesten vor dem Iran gibt es immer wieder: So wurden beim Staatsbesuch des iranischen Präsidenten Rohani in Roms Kapitolinischen Museen 2016 nackte Statuen hinter Schutzbauten versteckt. „Aus Respekt vor der iranischen Kultur und dem Glauben“ hieß es. „Unfassbar“, sagt Soli Kiani.