Pressestimmen zum Vorgehen Putins gegen die Ukraine

A tank drives along a street in Donetsk
"Tages-Anzeiger": Putin testet die Entschlossenheit des Westens. "De Telegraaf": Vor Putins Zarenreich ist kein Nachbar sicher. "De Standaard": Niemand will für die Ukraine sterben.

Das Vorgehen Russlands gegen die Ukraine wird weltweit von diversen Medien kommentiert. 

"Neue Zürcher Zeitung":

"Plant Putin einen umfassenden, an mehreren Fronten geführten Krieg, oder wird er eine begrenzte, nur punktuell ausgeführte Militäraktion anstreben? Die USA scheinen in jüngster Zeit von einer Großoperation auszugehen, die auch die Hauptstadt Kiew in die Zange nimmt. (...) Ein solches Vorgehen wird Putin wählen, wenn er die Ukraine vollständig niederringen und eine neue, auf lange Sicht Moskau-freundliche Regierung in Kiew installieren möchte. Doch damit verbunden sind auch die größten Risiken: Es wäre mit einer hohen Opferzahl zu rechnen und mit der Notwendigkeit, für längere Zeit als sicherlich unpopuläre Besatzungsmacht aufzutreten. (...)

Um den ukrainischen Streitkräften eine kurze, blutige Lektion zu erteilen, reicht eine begrenzte Militäraktion; um die Separatistengebiete in der Ostukraine stärker an Russland zu binden oder gar offiziell einzuverleiben, genügt sogar die Unterschrift unter einem Annexionsgesetz. In beiden Fällen könnte Moskau darauf hoffen, dass sich der Westen in seiner notorischen Zerstrittenheit nicht auf einschneidende Sanktionen einigen würde."

"Tages-Anzeiger" (Zürich):

"Die Eskalationsspirale dreht sich: Am Montag hat Kremlchef Wladimir Putin die ukrainischen Gebiete Luhansk und Donezk als unabhängig anerkannt, ein weiterer Schritt Richtung Krieg. Das ist nicht Joe Bidens Schuld. Der US-Präsident macht in dieser Auseinandersetzung vieles richtig - für einmal. (...)

So hat er das bereits für tot erklärte Verteidigungsbündnis NATO wiederbelebt und geeint. Indem er laufend russische Angriffspläne veröffentlichte, können alle nachlesen, wer in diesem Konflikt der Aggressor ist.

Ironischerweise kann Joe Biden zu Hause kaum davon profitieren. Die Umfragewerte des US-Präsidenten verharren im Keller, vor allem wegen der Rekordteuerung. Im Fall eines Kriegs dürften die Energiepreise weiter steigen und Bidens Problem verschärfen. Langzeitherrscher Wladimir Putin weiß, dass Biden sein kriegsmüdes Land auf die Herausforderung China fokussieren wollte und dass im Weißen Haus bald ein anderer sitzen könnte. Er dürfte die Geschlossenheit der NATO weiter testen - und darauf hoffen, dass andere ihre schlechten Karten nicht so gut ausspielen wie Biden."

"De Telegraaf" (Amsterdam):

"Putin hält gar nichts von dem Gedanken, dass die Ukrainer den Wunsch haben, sich von ihrem bösartigen Nachbarn abzusetzen, und gerade wegen der russischen Aggression gern zur NATO gehören würden. Die Vorstellung ist klar erkennbar: Ein historisch gewachsenes Territorium, das in Putins Erinnerung stets innig mit Russland verbunden war, droht ihm aus den Händen zu gleiten. Er greift ein, ehe es zu spät ist.

Das diplomatische Tauziehen mit den USA und der NATO über 'Sicherheitsgarantien', mit denen die NATO zurückgedrängt werden sollte, scheint nach drei Monaten des Truppenaufbaus an der ukrainischen Grenze bloß ein Ablenkungsmanöver gewesen zu sein. Der russische Präsident lebt nicht in einer Welt des internationalen Rechts, auf das er zwar verweist, wenn ihm das erforderlich erscheint, das er jedoch mit Füßen tritt, wenn die Regeln nicht seinem Geschichtsbild entsprechen. Putin wird oft als ein Anführer im Stil des 19. Jahrhunderts gesehen. Und an den Grenzen seines Zarenreiches kann sich kein souveräner Staat seines Bestehens sicher sein."

"Kommersant" (Moskau):

"Mit der Anerkennung der Unabhängigkeit der Volksrepubliken Donezk und Luhansk endet die Ukraine-Krise nicht, sondern geht in eine neue, vielleicht sogar noch zugespitztere Phase. Donezk und Luhansk können nun die Frage aufwerfen nach der Wiederherstellung ihrer territorialen Integrität innerhalb der Verwaltungsgrenzen der Regionen Donezk und Luhansk, die größtenteils unter der Kontrolle Kiews stehen. (...) Wenn dies nach der Unterzeichnung von Abkommen mit Moskau geschieht, wird ihnen nur Russland dabei helfen können."

"La Repubblica" (Rom):

"Gestern Abend versuchte Wladimir Putin, die Geschichte neu zu schreiben, indem er die Existenz des demokratischen und freien Staates Ukraine leugnete, die Geisterrepubliken Donezk und Luhansk als unabhängige Staaten anerkannte, das Minsker Abkommen endgültig begrub und die Amokfahrt, die europäischen Grenzen mit militärischer Gewalt zu verändern, fortsetzte. Der Krieg war noch nie so nah, und jetzt ist es für den gesamten Westen an der Zeit, mutige politische Entscheidungen zu treffen. Es ist an der Zeit, dass die Ukraine vollständig in die europäische Familie aufgenommen wird. Zusammen mit einem deutlichen und sehr harten Sanktionssystem ist das die beste Antwort, die man auf eine völlig ungerechtfertigte militärische Bedrohung vor den Toren Europas geben kann."

"De Standaard" (Brüssel):

"Es ist nach wie vor schwierig, sich etwas Umfangreicheres als eine begrenzte Aktion vorzustellen, bei der Russland die ostukrainischen Rebellengebiete de facto annektiert, wie es das 2014 mit der Krim getan hat. Putins gestrige Äußerungen ließen jedoch vermuten, dass seine Ambitionen weit darüber hinausgehen.

Putin machte deutlich, wie weit er bereit ist, für seine Vision von einer Sicherheitsarchitektur zu gehen, wie sein Russland sie braucht. Angesichts dieser Entschlossenheit ist der Westen fassungslos. Niemand will für die Ukraine sterben. Die angekündigten Sanktionen sind ein Eingeständnis der Schwäche. Es herrscht Uneinigkeit darüber, wie schnell sie kommen und wie hart sie durchgesetzt werden sollen. Putin ist vorbereitet auf alles, was Europa und die USA in petto haben."

"The Telegraph" (London):

"Eine diplomatische Lösung ist zwar einem Krieg vorzuziehen, aber nicht um jeden Preis, wie Ben Wallace, der britische Verteidigungsminister, Abgeordneten gegenüber erklärte. Der Westen darf der Zerschlagung der Ukraine nicht zustimmen, um Putin so zum Abzug seiner Truppen zu bewegen.

Die Provinzen Donezk und Luhansk stehen seit 2014 im Zentrum eines blutigen Konflikts zwischen den beiden Ländern, der bereits 10.000 Menschenleben gekostet hat. Wenn Putin sie von der Ukraine abspalten kann, so wie er es mit der Krim getan hat, wird er sein Vorgehen der Einschüchterung und Aggression als Erfolg werten. Aber er wird wiederkommen und als nächstes die baltischen Staaten auf seiner Liste haben."

"Lidove noviny" (Prag):

"Ist das ein Grund für einen Krieg? Kaum. Russland hält dem Westen den Spiegel vor. Putin demonstriert, dass Russland sich - ohne einzigen Schuss - das leisten kann, was sich der Westen 1999 mit Hilfe der NATO-Luftangriffen leisten konnte: Ein Stück aus einem souveränen Staat (Kosovo aus Serbien, Donbass aus der Ukraine) herauszureißen und seine Unabhängigkeit anzuerkennen. Und dass das Russlands letzter Schritt war, darauf sollte man lieber nicht wetten".

"Mlada fronta Dnes" (Prag):

"Das schicksalhafte Verdikt kann weitreichende Folgen für die schon so heiße ukrainische Krise haben. Mit aller Wahrscheinlichkeit bedeutet das zumindest das endgültige Ende des Minsker Abkommen. Die weitere Entwicklung wird auch davon abhängen, wie sich dazu die Regierung in Kiew stellen wird".

"El País" (Madrid):

"Der gestrige Schritt von (Kreml-Chef) Wladimir Putin, die Separatistengebiete im Osten der Ukraine als unabhängige Republiken anzuerkennen, verschärft die Krise weiter und ist im internationalen Rechtsrahmen inakzeptabel. Vor diesem Hintergrund versuchen die westlichen Demokratien nun mit fieberhaften diplomatischen Bemühungen, einen Flächenbrand zu verhindern, der sowohl für die Zivilbevölkerung als auch für die Weltordnung verheerende Folgen hätte. Diese Bemühungen des Westens, alle Möglichkeiten des Dialogs zu nutzen, haben solide Grundlagen. Im Gegensatz zu vergangenen Jahren ist es den westlichen Demokratien nämlich gelungen, eine beträchtliche Einigkeit herzustellen, um der Herausforderung durch Moskau zu begegnen. Ganz anders als sein Vorgänger hat (US-Präsident) Joe Biden sich um möglichst enge Beziehungen zu den europäischen Verbündeten bemüht. Und die EU-Länder sind ihrerseits enger zusammengerückt. Es ist von entscheidender Bedeutung, dass diese Einheit - die von Moskau und Peking mit Enttäuschung registriert wird - nicht zersplittert."

"Verdens Gang" (Oslo):

"Unabhängig vom Ausgang ist die Krise in der Ukraine ein Zeichen dafür, dass Europa in eine gefährlichere Zeit eintritt. Putin versucht, in der Ukraine etwas von dem wiederaufzubauen, was beim Zusammenbruch der Sowjetunion verloren ging. Es ist keine Frage, ob der Krieg in die Ukraine kommen wird. Der Krieg zwischen russisch unterstützten Rebellen und ukrainischen Kräften geht im Osten des Landes bereits seit acht Jahren vor sich. Die Frage ist, ob die Kampfhandlungen im Donbass nur ein Vorläufer für die größte Militärkampagne in Europa seit 1945 sind. Putin sagt, Moskaus oberste Priorität sei nicht die Konfrontation, sondern die Sicherheit. Sein Vorgehen deutet leider in die entgegengesetzte Richtung."

"Washington Post":

"So endet die Nachkriegswelt und auch die Welt nach dem Kalten Krieg: noch nicht mit einem Knall und nicht mit etwas, was annähernd einem Wimmern gleicht, sondern mit einer Wutrede. In einem außergewöhnlichen Monolog, der am Montag weltweit live übertragen wurde, attackierte und delegitimierte der russische Präsident Wladimir Putin nicht nur die unabhängige Ukraine und ihre Regierung, sondern alle Seiten der Sicherheitsarchitektur in Europa und erklärte beide zu Kreaturen eines korrupten Westens - angeführt von den Vereinigten Staaten -, die Russland gegenüber unablässig feindselig eingestellt sind. (...)

Nach Montag ist leider klar, dass Putin nicht abgeschreckt wurde, ein Krieg wahrscheinlich ist und es keinen Grund mehr gibt, mit der Verhängung von Sanktionen zu warten - sogar über (die selbst ernannten Volksrepubliken Donezk und Luhansk im Osten der Ukraine) hinaus, die das Weiße Haus sofort ins Visier nahm. Das wäre der erste Schritt, um entschieden auf diese geopolitische Krise zu reagieren, aber es kann kaum der letzte sein."

"Nepszava" (Budapest):

"Putin hat mehreren Politikern einen Gefallen erwiesen, obwohl dies kaum seine Absicht gewesen sein dürfte. (...) (US-Präsident) Joe Biden braucht sich nun nicht mehr dauernd mit innenpolitischen Problemen herumzuschlagen. (...) Wenn es zum Krieg kommt, kann er sagen, dass er vorzeitig davor gewarnt hat. Kommt es hingegen zu einer Entspannung, kann er behaupten, dass dies dem entschlossenen Auftreten Amerikas zu verdanken sei. Auch (dem britischen Premier) Boris Johnson warf Putin einen Rettungsring zu. Die Aufmerksamkeit für dessen (Corona-Party-)Skandale, für die dramatischen Brexit-Folgen und das Nordirland-Problem ist dahingeschwunden. (...) Im Zusammenhang mit der aktuellen Krise zogen viele die Kompetenz von Olaf Scholz in Zweifel. Doch mit seinem vorwöchigen Besuch in Moskau bewies der deutsche Bundeskanzler, dass er ein Politiker mit hervorragenden Fähigkeiten und ein ausgezeichneter Verhandler ist. Als ob Putin ihn aus dem Dornröschenschlaf geweckt hätte."

"Neatkariga Rita Avize" (Riga):

"Es ist möglich, dass es zu einem Krieg kommt, weil der Westen die Ukraine nicht zwingen wird, sich kampflos zu ergeben, und der Westen kann Putin nicht davon überzeugen, dass dieser Schritt schlecht für ihn enden wird. Wird der Krieg global? Das wird von der Reaktion des Westens abhängen. Wenn sie scharf und unerwartet stark ist, dann wird Russland, in bester russischer Tradition, die Zähne eingeschlagen bekommen, sich das Blut abwischen und zurückkriechen, um wieder Freunde zu sein. Ohne Gegenmaßnahmen oder Vergeltung wird die Unverfrorenheit nur noch weiter zunehmen - ohne die Möglichkeit, ihr Einhalt zu gebieten."

"New York Times":

"Die Vorstellung einer gewaltigen Einnahme von Territorium in Europa durch einen ausgewachsenen Krieg schien nicht mehr möglich. Doch während seiner vielen Jahre im Kreml schien (der russische Präsident Wladimir) Putin einen immer stärkeren Groll darüber zu hegen, wie Russland und er selbst im Westen behandelt werden. Und irgendwann im letzten Jahr, als seine persönliche Macht effektiv für den Rest seines Lebens gesichert war, die Vereinigten Staaten bitter gespalten und scheinbar müde von Auslandskriegen waren sowie die NATO scheinbar uneins war, entschied Putin offensichtlich, dass es an der Zeit war, seine Herrschaft über Gebiete auszudehnen, von denen er sich selbst überzeugt hatte, dass sie zu Russland gehörten. (...)

(US-Präsident Joe) Biden und seine Verbündeten und Partner hatten Recht, nicht überzureagieren und Putin kontinuierlich eine Exit-Strategie anzubieten. (...) Wachsame Geduld ist an dieser Stelle nicht mit Besänftigung gleichzusetzen. (...) Es gibt keine Rechtfertigung für Russlands Anerkennung der beiden komischen "Volksrepubliken", eine gleichermaßen illegale wie empörende Aktion. Doch die Katastrophe, die der Ukraine und Europa im Falle einer vollständigen Invasion widerfahren würde, rechtfertigt es, der Diplomatie weiterhin eine Chance zu geben."

"Wall Street Journal" (New York):

"Auf der Münchner Sicherheitskonferenz am Wochenende betonten US-Regierungsvertreter immer wieder, wie geeint das transatlantische Bündnis angesichts der russischen Aggression sei. Es scheint fast so, als wollten sie sich selbst davon überzeugen ebenso wie Herrn Putin, denn sie kennen die Risse, die unter der Oberfläche der Beteuerungen von Entschlossenheit und Einigkeit existieren. (...)

Das Weiße Haus schien am Montagabend in seiner Reaktion unsicher zu sein, auch in der Frage, ob es sich überhaupt um eine Invasion handele, und seine ersten Sanktionen beschränkten sich darauf, den amerikanischen Handel und Investitionen in den "sogenannten Volksrepubliken Donezk und Luhansk zu unterbinden."

Russland marschiert also in die Ukraine ein, und die USA beschließen, nicht Russland, sondern einen Teil der Ukraine zu sanktionieren. (...) Wir hätten gedacht, dass die Europäer, insbesondere die Deutschen, dieses historische Echo verstehen und entsprechend reagieren würden. Wenn das Gemetzel in der Ukraine seinen Lauf nimmt, sollten die amerikanischen und europäischen Eliten darüber nachdenken, wie sie sich erneut zu Geiseln eines Diktators gemacht haben."

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