Polizeigewalt in Serbien: "Kein Polizist landet im Gefängnis"
Ein Schlag, noch einer, noch einer. Aus voller Kraft. Mit dem Schlagstock. Gegen den Kopf. Die Videos verbreiteten sich schnell am Mittwoch und Donnerstag. Sie zeigen etwa Polizisten in voller Montur, die auf unbewaffnete und teils friedliche Demonstranten einschlagen. Auch, wenn diese schon auf dem Boden liegen.
Zwei Nächte in Folge sind in mehreren serbischen Städten Tausende Menschen auf die Straße gegangen, um gegen die Regierung und deren erratischer Corona-Politik zu demonstrieren – die Polizei reagierte kompromisslos.
"Die Polizei hat sich nicht korrekt verhalten", sagt Nikola Kovačević vom Belgrader Zentrum für Menschenrechte, der sich seit Jahren mit Polizeigewalt auseinandersetzt.
Vor allem die Unzufriedenheit der Menschen mit dem monatelangem Missmanagement der Covid-Krise trieb die Menschen am Dientag- und Mittwochabend auf die Straße. Ausgelöst von der Ankündigung neuer Ausgangssperren für das Wochenende - die am Dienstag verkündet und am Mittwoch wieder zurückgenommen wurden.
Zwei Monate hatten in Serbien extrem strenge Ausgangsbeschränkungen gegolten, die einen Monat vor der Wahl am 21. Juni zur Gänze aufgehoben wurden. Sportveranstaltungen und Nachtleben gingen weiter wie vor Corona. Die Rechnung ging auf, Vučićs Fortschrittspartei gewann die Wahlen mit mehr als 60 Prozent der abgegebenen Stimmen.
Fußball-Hooligans im Verdacht
"Wen beschützt ihr?", steht mit Sprayfarbe auf den Boden geschrieben, irgendwo in Belgrad. Das gesamte Land scheint überrascht von der exzessiven Gewalt einerseits durch Polizisten, aber auch durch gewalttätige Demonstranten in den vergangenen Tagen. "Man darf nicht vergessen, wir hatten monatelang Proteste auf serbischen Straßen – ohne dass auch nur irgendetwas in diese Richtung passiert wäre", sagt Milan Antonijević, politischer Beobachter und Geschäftsführer der Open Society Foundation Serbien, die vor Ort die Zivilgesellschaft unterstützt.
Wichtig sei jetzt vor allem, dass geklärt wird, wer für die Ausschreitungen verantwortlich ist. Und zwar auf beiden Seiten: "Man konnte beobachten, wie friedliche Proteste von einer Minute auf die andere gewalttätig wurden", sagt Antonijević - an beiden Tagen. Ähnlich wie bei dem berüchtigten Belgrader Fußball-Derby zwischen Partizan und Roter Stern waren etliche bengalische Feuer zu sehen. Vieles deute darauf hin, dass kleinere Gruppen von Hooligans an der Gewalteskalation beteiligt waren, sagen Beobachter zum KURIER.
Es sei wichtig, dass die Behörden ermitteln, wer diese Gruppen sind, die Tausende Bürger in Gefahr gebracht haben, sagt Antonijević. Ob sie Teil der Demonstranten waren, oder ob sie die zunächst friedlichen Proteste per Auftrag infiltriert hätten.
Historisch Probleme mit Polizeigewalt
Auf der anderen Seite sei es auch wichtig, jene Polizisten zu ermitteln, die unverhältnismäßig Gewalt angewendet hätten, sagt der politische Beobachter. "Das sollte ein Thema für interne Ermittlungen im Innenministerium sein beziehungsweise für die Staatsanwaltschaft."
Doch zu viel Hoffnung macht sich Menschenrechtler Nikola Kovačević nicht: "Die Chance ist groß, dass die Staatsanwaltschaft die Anklage gegen Polizisten fallen lässt, nicht zuletzt, weil sie die gewalttätigen Polizisten nicht identifizieren kann." Er spricht ein großes Problem bei Serbiens Sicherheitssystem an: die Straffreiheit.
Laut einem Bericht wurden zwischen 2010 und 2020 90 Prozent der Anklagen vom Staatsanwalt fallen gelassen. Im Gefängnis landet kaum ein Polizist für Gewalt oder Folter. Und die meisten bleiben auch im Dienst, so Kovačević. Dabei wäre es wichtig, so der Menschenrechtler, einmal einen Präzedenzfall vorweisen zu können. Derzeit aber wisse jeder Polizist, wenn er Gewalt anwendet, wird ihm beruflich nichts passieren.
Die serbische Polizei habe historisch immer wieder Tendenzen zur Gewalt gezeigt. In Zeiten des Kommunismus seien immer wieder "Menschen verschwunden", in den Neunzigern wurde die Polizei aktiv vom Regime benutzt, um politische Gegner einzuschüchtern. Das könne man heute nicht beweisen, so Kovačević. Aber zumindest werde "weggeschaut". Der Polizeichef wollte vorerst keine Verantwortung übernehmen, Innenminister Nebojša Stefanović spielte Polizeigewalt herunter, indem er die Gewaltexzesse der Demonstranten hervorhob.
Doch immerhin sprach der mächtige Präsident ein Machtwort. Es müsse ermittelt werden, wer die Verantwortung für die Gewalt habe, so Aleksandar Vučić. Das nehmen Beobachter zumindest als deeskalierend wahr. Denn in einem Punkt sind sich wohl die meisten einig: "Das ist ein Gewaltzirkel, den Serbien jetzt wirklich nicht braucht", sagt Antonijević. "Wir haben mit Corona, der EU-Integration und den Kosovo-Gesprächen eigentlich genug zu tun."
Kommentare