Doch zuvor entlud sich die Wut der Bevölkerung in spontanen Demonstrationen vor dem Parlament, sagt der serbische politische Analyst Vuk Velebit im Gespräch mit dem KURIER. Zunächst waren es 100 bis 200 Demonstranten, wenig später schon Tausende: „Es ist die Unzufriedenheit der Menschen mit monatelangem Missmanagement der Covid-Krise.“ Zwei Monate galten extrem strenge Ausgangsbeschränkungen, die einen Monat vor der Wahl zur Gänze aufgehoben wurden. Die Regierungspartei hielt Massenveranstaltungen ab, es wurde vor Tausenden Zuschauern Fußball und Tennis gespielt, das Nachtleben ging weiter, als gäbe es kein Morgen – und kein Coronavirus. Die Rechnung ging auf, Vučićs Fortschrittspartei gewann die Wahlen haushoch, im Parlament ist so gut wie keine Opposition mehr vertreten.
Kurz nach der Wahl wurde klar, dass die Corona-Zahlen deutlich höher sind, als gedacht. Das investigative Portal Balkan Insight hatte aufgedeckt: Die Todeszahlen waren doppelt so hoch wie von den Behörden berichtet. Die Infektionen ebenfalls deutlich höher.
Plötzlich betont auch Vučić, dass die Situation „alarmierend“ und „kritisch“ sei.
Missmanagement der Pandemie
„Das ist für dich Papa, ich weiß du wärst stolz“, sagt ein Demonstrant in Belgrad gestikulierend mit glasigen Augen in die Kamera. Sein Vater sei vor Kurzem gestorben, weil es nicht genügend Beatmungsgeräte gegeben hatte. Der Sohn macht die Regierung dafür verantwortlich. Der Ausschnitt wurde Hunderte Male auf sozialen Medien geteilt.
Und er macht eines deutlich: Viele der Menschen, die derzeit ihren Unmut auf die Straße bringen, tun das aus einer Mischung aus Unzufriedenheit mit dem Corona-Management und Wut wegen der autoritären Tendenzen des Präsidenten.
Tausende, vielleicht Zehntausende sollen es gewesen sein, die vor dem Parlament – teils mit Mundschutz – „Rücktritt, Rücktritt“ skandierten. Velebit, der sich selbst auch als Aktivist bezeichnet, sprach von Familien, Kindern und Pensionisten, die unter den Demonstrierenden waren.
"Kein Recht, Steine zu werfen"
Doch dann drangen mehrere Menschen in das Parlament ein – „Extremisten, vielleicht Hooligangruppen“, sagt Velebit, der betont, dass viele Fußball-Ultragruppen unter Kontrolle des Regimes stehen. Außerdem sollen Demonstranten Steine geworfen haben. Beide Vorfälle haben sofort eine harsche Reaktion der Polizei hervorgerufen.
Innenminister Nebojša Stefanović aus der Präsidentenpartei kommentierte das trocken: „Jeder hat das Recht zu protestieren, aber keine Steine auf die Polizei zu werfen.“ Menschenrechtler mahnten zur angemessenen Gewaltanwendung durch die Polizei. Das Belgrader Zentrum für Menschenrechte erhob Anklage wegen Polizeibrutalität.
Für Präsident Vučić seien Rechtsextremisten für die Ausschreitungen verantwortlich. Er sprach von der „brutalsten politischen Gewalt seit Jahren“. Aktivist Velebit andererseits sprach von der "brutalsten Polizeigewalt seit den 90ern".
Die Regierung jedenfalls reagierte - und nahm die Ausgangsbeschränkungen wieder zurück. Die Ministerpräsidentin Ana Brnabić und der Krisenstab würden am Donnerstag über andere Restriktionsmaßnahmen entscheiden, um die Epidemie einzudämmen, sagte Vučić am Mittwoch. Er selbst, ließ er nicht unbetont, sei aber weiterhin der Ansicht, dass eine Ausgangssperre der beste Weg zur Lösung des Problems sei.
Vielleicht, weil die Proteste auch am Mittwochabend - trotz Entgegenkommens der Regierung - noch weitergingen.
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