Politologe: Menschen in Großbritannien wegen Brexit besorgt

UK shoppers may face food shortages and an increase in prices if EU and UK fail to reach a Brexit deal
"Nicht besonders viele Leute wollen ohne einen Deal ausscheiden", sagt Meinungsforscher Roger Mortimore. Die Mehrheit sei aber pro-Brexit.

Auch wenn die Coronakrise die mediale Berichterstattung in Großbritannien in den vergangenen Monaten dominiert habe und das Thema Brexit zeitweise praktisch aus den Nachrichten verschwunden sei: "Die Menschen haben weiter darüber nachgedacht und sich weiter darüber Sorgen gemacht", sagt der Politik-Professor und Meinungsforscher Roger Mortimore. Und das gelte wohl für das Pro-EU-Lager ebenso wie für das Pro-Brexit-Lager, so der Experte im Gespräch mit der APA.

Das Meinungsforschungsinstitut Ipsos MORI führe seit den 1970er-Jahren regelmäßig eine Umfrage durch, in der den Briten die offene Frage gestellt werde, welches aus ihrer Sicht die wichtigsten Themen seien, mit denen das Land konfrontiert sei. "Und natürlich war das Coronavirus das ganze Jahr über an erster Stelle, aber der Brexit ist immer noch an zweiter Stelle und sehr weit vor allem anderen."

In den Hintergrund

Viele andere Dinge, die die Menschen normalerweise beschäftigten - wie etwa Kriminalität, die sonst immer von ziemlich vielen genannt werde - machten ihnen im Moment offenbar weniger Sorgen. "Aber der Brexit ist nicht eines dieser Dinge, die in dieser Weise von der Agenda verschwunden sind. Der Brexit ist etwas, das den Menschen bewusst ist und über das sie nachdenken", erläutert Mortimore, der Direktor für politische Analyse bei Ipsos MORI ist.

Das bedeute möglicherweise aber auch, dass sich die Regierung nicht hinter der Pandemie "verstecken" können werde, sondern dafür einstehen müsse, "was sie in Sachen Brexit erreicht hat und damit vielleicht auch in die nächste Wahl ziehen". Umgekehrt hätten freilich auch nicht viele Menschen seit dem Referendum von 2016 ihre grundsätzliche Einstellung zum EU-Austritt geändert. "Die Meinungen haben sich nur verhärtet."

Unterstützung für Brexit

Fast alle Menschen, die vor vier Jahren für einen Austritt aus der Europäischen Union eingetreten seien, unterstützten den Brexit noch immer. "Sie verfolgen die Verhandlungen und machen die EU und nicht die britische Regierung dafür verantwortlich, dass die Gespräche nirgendwo hinführen. Und ich bin mir sicher, dass sie, wenn die Dinge falsch laufen, nachdem der Brexit wirksam geworden ist, weiter denken werden, dass das der Fehler vom Rest Europas ist, weil er in den Gesprächen unvernünftig gewesen sei, und eher nicht, dass etwas an der Idee des Brexit an sich falsch sein könnte."

Wenn die Regierung unter Premier Boris Johnson ihre Karten also gut spiele, verfüge sie noch immer über "eine solide politische Unterstützung für das, was sie tut", meint Mortimore. "Natürlich stehen viele Leute auf der anderen Seite, und im Moment dürfte es eine Mehrheit gegen den Brexit geben, zumindest in dem Sinne, dass sie wünschten, wir hätten nicht dafür gestimmt, und sie kritisieren die Regierung und werden auch versuchen, die Entscheidung für den Brexit und die Verhandlungen der Regierung für alles verantwortlich zu machen, was schiefgeht. Aber es gelingt ihnen nicht, ihre Gegner zu überzeugen."

Die Unterstützung für den EU-Austritt in Umfragen hänge auch davon ab, welche Frage man genau stelle, sagt der Experte. "In den Befragungen, die ich gesehen habe, ist das 'Remain'-Lager vorne, aber nur knapp, mit etwa 53 zu 47 Prozent, was fast genau dem entspricht, was die Umfragen am Tag des Referendums gesagt haben. Es könnte sein, dass unter den 53 Prozent viele sind, die letztlich nicht zu einer Abstimmung gehen würden, während die 47 Prozent motivierter sein könnten, abzustimmen."

Wenn man die Frage etwas anders stelle und von den Menschen wissen wolle, was aus ihrer Sicht der ideale Ausgang der aktuellen Lage wäre - "ob sie einen Deal wollen, ob sie keinen Deal wollen oder ob sie der Europäischen Union wieder beitreten wollen", dann sprächen sich viele "Remainer" nicht dafür aus, den Brexit zu canceln. "Nur ungefähr die Hälfte von ihnen würde den Brexit zurücknehmen, wenn sie könnte.

Der Rest, wahrscheinlich, weil sie das demokratische Votum respektieren wollen, würde lieber das Beste aus der Entscheidung machen und einen weichen Brexit haben wollen als der EU wieder beizutreten. Wir wissen im Grunde nicht, was passieren würde, wenn es ein zweites Referendum gäbe, aber es sieht immer noch so aus, als wäre es knapp."

"Jedes Mal gewonnen"

Man müsse auch bedenken, dass bei der Parlamentswahl im Vorjahr "jede bedeutende Partei mit Ausnahme der Konservativen ein zweites Referendum angeboten hat, die Liberaldemokraten haben versprochen, den Brexit ohne Referendum rückgängig zu machen, und die Konservativen haben sehr leicht gewonnen", sagt Mortimore. "Für jeden, der demokratische Prozesse respektieren will, haben wir jetzt drei Voten darüber gehabt, und die Brexit-Seite hat jedes Mal gewonnen. Sie haben das Referendum gewonnen, die Konservativen haben (bei der Parlamentswahl) 2017 gewonnen, wenn auch nicht sehr überzeugend, und dann haben sie 2019 sehr viel überzeugender gewonnen."

Wenn die Gespräche zwischen der EU und London über einen Handelspakt scheitern sollten, dürfte dies nach Einschätzung Mortimores Johnson zumindest kurzfristig politisch nicht allzu teuer zu stehen kommen. Denn der Premier verfüge eben immer noch über eine solide Unterstützung. Mehrere Umfragen hätten jüngst erfragt, welches Ergebnis sich die Menschen von den Verhandlungen wünschten. "Und nicht besonders viele Leute wollen ohne einen Deal ausscheiden. Im Idealfall hätten sie gerne irgendeine Art von Deal." Aber ein ziemlich bedeutender Teil wolle nur einen Deal, wenn er erzielt werden könne, ohne dass Großbritannien dafür große Zugeständnisse machen muss.

"Die zentralen Punkte, bei denen sich die britische Regierung weigert nachzugeben, sind glaube ich Punkte, bei denen zumindest ein substanzieller Teil der Bevölkerung und wahrscheinlich die überwiegende Mehrheit jener, die vergangenes Jahr die Konservativen gewählt haben, die Regierung unterstützen und der anderen Seite die Schuld geben würde. Wenn man jene Menschen, die keinen Deal wollen - und davon gibt es nicht so viele - mit jenen zusammenzählt, die gerne einen Deal hätten, aber keinen auf Kosten von Zugeständnissen, dann hat man die überwiegende Mehrheit aller Brexit-Unterstützer."

Kein Verständnis

Das Problem sei die ganzen vergangenen vier Jahre gewesen, "dass die beiden Seiten einander überhaupt nicht verstehen und beide meinen, dass jene Argumente, die sie selbst überzeugen, auch für die anderen überzeugend sein sollten. Wenn sie nur die Unterstützer der anderen Seite dazu bringen könnten zuzuhören, dann würden alle plötzlich ihre Meinung ändern. Aber so funktioniert das überhaupt nicht."

Es helfe nichts, wenn die EU-Befürworter oder die EU selbst meinten, wirtschaftliche Argumente würden Brexit-Anhänger überzeugen, ihre Meinung zu ändern. "Das ist nicht, warum sie für den Brexit gestimmt haben. Sehr wenige Menschen, die für den Brexit votiert haben, haben geglaubt, dass das wirtschaftlich sehr viel bringen wird. Ich denke, viele mehr haben hingenommen, dass es vielleicht wirtschaftlich schmerzen wird, wollten es aber trotzdem." In ähnlicher Weise könnten Brexit-Befürworter jene nicht wirklich verstehen, die für einen Verbleib in der EU gestimmt haben. "Sie erkennen nicht, dass das für die meisten von ihnen eine rationale Entscheidung war und etwas, das sie als gut für sich und für das Land betrachteten." Deshalb vermuteten viele "Leaver" auch unlautere Motive bei den EU-Befürwortern.

Sorgen über den Brexit machen sich nach Einschätzung Mortimores, der am Londoner King's College lehrt, jedenfalls beide Lager. "Ich glaube, die Menschen sind besorgt. Leute auf beiden Seiten gestehen zu, dass die Verhandlungen nicht gut laufen, dass ein offensichtliches Risiko besteht, dass es keinen Deal gibt, oder wenn es einen Deal gibt, das etwas sein könnte, was in letzter Minute zusammengeschustert wurde und nicht sehr gut durchdacht ist." Auch im Hinblick auf die ersten spürbaren Folgen des EU-Austritts dürfte bei der Mehrheit auf beiden Seiten ziemlicher Pessimismus herrschen. "Aber sie werden sehr gespalten darüber sein, wen sie dafür verantwortlich machen."

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