Olympia-Gastgeber Japan: Ein 125-Millionen-Land stirbt aus
Streng genommen hat Japan sein Ziel bereits erreicht: Einzigartige Olympische Spiele auszurichten. Doch im Schatten der Corona-Pandemie erstrahlt das Gastgeberland der größten Sportveranstaltung der Welt nicht sonderlich hell. „Für die Marke Japan sind diese Sommerspiele ein Desaster“, sagte Jeff Kingston, Politologe und Historiker an der Temple University von Tokio, im Vorfeld der Eröffnung in der Neue Zürcher Zeitung.
Japan, diese meist höfliche, oft begeisterungsfähige, stets harmoniebedürftige Nation, lehnt diese Sommerspiele erstaunlich offen ab.
Acht von zehn Japanern sprachen sich in Umfragen zuletzt gegen die Durchführung aus. Dabei sollte das weltumspannende Sportfest das stolze G-7-Land neu aus- und aufrichten im Kreis der Großmächte. So wie es auch schon die Sommerspiele in Tokio 1964 getan haben.
Damals war der zehnjährige Shinzō Abe überwältigt von der Macht der Bilder, die aus dem Olympiastadion in die ganze Welt hinausgingen. So erzählte er es jedenfalls im September 2013, als er in seiner Funktion als Premierminister die Glückwünsche für den Olympia-Zuschlag entgegennahm. Die zweiten Sommerspiele in der Geschichte des Landes erlebt er jedoch nicht mehr als Regierungschef, nachdem er im Herbst 2020 aus gesundheitlichen Gründen zurückgetreten war.
Sein Nachfolger, Yoshihide Suga, wickelt die Spiele auch deshalb gegen den Willen des Volkes ab, um im Vergleich mit China nicht als Verlierer da zu stehen. Der große Rivale veranstaltet sechs Monate später die Winterspiele. Auf die Idee, die Bevölkerung nach deren Meinung zu befragen, kommt Peking erst gar nicht.
Premier Suga verwaltet aber nicht nur ein schweres Olympia-Erbe. Japan, ein 125-Millionen-Einwohner-Land, stirbt aus. Nicht heute oder morgen, aber vielleicht im Jahr 3776. Diese Jahreszahl hat zumindest eine Universität in Tokio vor einigen Jahren errechnet und einen Countdown eingerichtet, der das Ende Japans hinunter zählt. Ändert sich die demografische Entwicklung nicht, kommt 3776 nur mehr ein Kind in Japan zur Welt, geht das Land der aufgehenden Sonne unter.
Doch schon jetzt befindet sich das Land in einer dramatischen Schieflage. Die durchschnittliche Lebenserwartung liegt bei fast 84 Jahren, mehr als ein Viertel der Bevölkerung ist über 65. Das Ziel der Regierung ist es, dass es 2050 noch 100 Millionen Japaner gibt. Derzeit sterben alleine in Tokio jährlich mehr Menschen, als in Graz leben.
Ein Wandel ist nötig, doch gerade dieser fällt Japan seit jeher schwer. Die konservative LDP ist seit 1955 mit zwei kurzen Unterbrechungen fast durchgehend an der Macht. „An der Spitze des Landes stehen alte Männer, die die Bodenhaftung verloren haben. Es zeigt sich, dass die Dinosaurier, die Japan regieren, der Sache nicht mehr gewachsen sind“, sagt Politologe Jeff Kingston.
Der Inselstaat ist an die Isolation gewöhnt. Bis 1854 ließ man 220 Jahre lang nichts Fremdes zu. Wer Japan bereist, erlebt heute noch ein Land, das sich Eigenheiten bewahrt hat, die in der globalisierten Welt selten geworden sind.
Trotz der High-Tech-Industrie, die Japan ab den 1960er-Jahren Wohlstand gebracht hat, ist das einstige Kaiserreich konservativ und traditionsbewusst ausgerichtet. Das zeigt sich auch in Migrationsfragen. Die „Gaijin“, die Leute von draußen, werden am Jobmarkt gebraucht, aber dennoch kritisch beäugt. Ein neues Einwanderungsgesetz ermöglicht seit 2019, dass mehr Fremde bleiben dürfen. Obwohl laut Schätzungen gut eine Million neue Facharbeiter nötig sind, um die Wirtschaft am Laufen zu halten, haben ob der strengen Auflagen bis zum März 2021 lediglich 22.567 Personen ein Arbeitsvisum erhalten. Noch rigoroser ist die Asylpolitik: Im gesamten Jahr 2020 wurden 47 (!) Flüchtlinge aufgenommen.
Familie kaum realisierbar
Der Japaner bleibt unter sich – im doppelten Sinn. Das hohe Arbeitspensum führt dazu, dass ein Familienleben kaum realisierbar ist. Wie das Nationale Institut für Studien zur Bevölkerung und zur sozialen Sicherheit errechnete, werden 2040 vier von zehn Japanern alleine leben. Das Single-Dasein wird perfektioniert. Das Geschäft mit Hausrobotern oder Liebespuppen boomt.
Die Sonderstellung des Japaners in der Welt wollte in den 1980er-Jahren ein Mitglied der medizinischen Fakultät der Uni Tokio mit einem (wissenschaftlichen) Buch untermauern: „Das japanische Gehirn: Einzigartigkeit und Universalität.“ Es wurde ein Bestseller.
220 Jahre dauerte Japans Isolationspolitik, die erst 1854 durch militärischen Druck der USA endete. Erstmals gab es einen US-Konsul in dem Land.
Blick nach Westen: Mit der Meiji-Restauration ab 1868 wurde der Aufbau eines neuen politschen Systems nach westlichem Vorbild eingeleitet. Die Macht des Tennō (auf Deutsch: Kaiser) wurde erneuert.
Aufstieg und Expansion: Zu Beginn des 20. Jahrhunderts stieg Japan zur ersten Industrienation Asiens auf. Große Teile Chinas wurden erobert. Während des Zweiten Weltkriegs folgten zahlreiche Gebiete in Südostasien, darunter die Philippinen und Singapur.
Das neue Japan: Am 15. August 1945 kapitulierte Japan, zwei Jahre später trat die bis heute gültige Verfassung in Kraft, die Japan als parlamentarische Monarchie ausrichtete. Die Besatzungszeit der Alliierten endete 1952, Japan erlangte seine volle Souveränität.
Nur die USA und China können aktuell ein höheres Bruttoinlandsprodukt vorweisen – mit 4.426 Milliarden Euro ist Japan die drittgrößte Volkswirtschaft der Welt.
4 Mal ist Japan nun schon Olympia-Gastgeber: 1964 (Tokio/Sommer), 1972 (Sapporo/Winter), 1998 (Nagano/Winter), 2021 (Tokio/Sommer).
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