Ja, es gibt Genossen, die haben früh an Olaf Scholz geglaubt – und den offiziellen Antrag zu seiner Kandidatur gestellt. Sie sitzen in einem Besprechungsraum in Rahlstedt, dem bevölkerungsreichsten Stadtteil Hamburgs. Im Büro von Ekkehard Wysocki, Abgeordneter in der Bürgerschaft. Er war mit Scholz im Gymnasium, bei den Jungsozialisten – und "politisch nicht auf demselben Flügel". Scholz war auf dem linken, Wysocki auf dem rechten. Es war eine Zeit des Aufbruchs, der Rebellion, erzählt er. Viel hätten sie diskutiert, über Fragen der Enteignung und wo eine Gesellschaft hinwill. Demonstriert wurde aber Seite an Seite, etwa gegen den NATO-Doppelbeschluss. Die gesellschaftlichen Auseinandersetzungen dieser Zeit zogen sich quer durch die SPD.
"Das ist heute vorbei", wirft Günter Frank ein, der neben ihm sitzt und Ortsvorsitzender war. "Scholz ist ein Pragmatiker", sagt er. Und einer, der wusste, wohin er will – diesen Eindruck hatte Axel Sellmer, der dritte Genosse im Büro. Als er dem 17-jährigen Scholz das Parteibuch überreichte, war ihm klar: "Das ist einer, der will alles, was möglich ist, mitmachen." Scholz habe sich schnell überregional engagiert, so Sellmer. Er hat "nach den höchstmöglichen Ämtern gestrebt". Dass er nach dem Abitur Arbeitsrecht studierte, komme ebenfalls nicht von ungefähr.
Denn geprägt habe ihn vor allem sein Umfeld und das Aufwachsen in Großlohe, glauben die Genossen. Der Ortsteil liegt zwei Kilometer von der Rahlstedter Fußgängerzone entfernt. Auf dem Weg dorthin kommt man an Gründerzeitvillen vorbei, genauso wie an Sozialwohnungen, die in den 50er-Jahren gebaut wurden. Viele der Bewohner bekamen damals finanzielle Unterstützung, heute ist es Hartz IV. Am Ende einer Straße taucht eine Ansammlung Backstein-Reihenhäuser auf. Hier ist er mit seinen Brüdern Ingo und Jens aufgewachsen– "behütet" und "bürgerlich", wie seine Wegbegleiter betonen. Der Vater arbeitete als Generalvertreter bei einer Textilfirma, die Mutter war zu Hause. "Das war sicher kein Zuckerschlecken für solche Leute", sagt Günter Frank mit Blick auf die Gegend. Aber Scholz habe so alle Schichten der Gesellschaft kennengelernt. "Das hat ihn sicher stark und selbstbewusst gemacht."
Was seine politische Karriere betrifft, kann ihm das später geholfen haben. Oft musste er Niederlagen einstecken: 2001 berief man ihn vor der Hamburg-Wahl zum Innensenator, Scholz setzte auf einen restriktiven Kurs, um die offene Flanke "Innere Sicherheit" zu decken. Doch er konnte das Ruder nicht mehr herumreißen. Die SPD verlor das Rathaus. Scholz ging nach Berlin und musste als SPD-Generalsekretär Gerhard Schröders Hartz-IV-Reform verteidigen – das tat er in einem monotonen Sprech, der ihm den Beinamen "Scholzomat" und wenig Sympathie einbrachte. 2003 wählten ihn die Delegierten am Parteitag mit nur 52,6 Prozent wieder. Er trat ab, blieb aber in der Hauptstadt und avancierte zum Arbeitsminister.
2011, als die SPD in Hamburg in Nöte geriet, war er wieder zur Stelle – als Landeschef und Spitzenkandidat: "Wer Führung bestellt, kriegt sie auch", soll er damals gesagt haben. Die Genossen in der Hansestadt rückten zusammen, Scholz eroberte das Rathaus zurück.
Ein bisschen erinnert das an die aktuelle Situation. Der Hanseat hat als Kanzlerkandidat eine am Boden liegende SPD übernommen und könnte sie wieder zur Nummer eins machen. Dass dieser Plan aufgehen kann, dürfte Scholz – anders als Außenstehende – nie bezweifelt haben, hört man. Vielleicht war es seine nüchterne, kühle und zurückhaltende Art, die diese Vorstellung begrenzt hat.
Er ist "sparsam in seiner Emotion", sagt Günter Frank. Ekkehard Wysocki erinnert sich ebenfalls, dass er "nie jemand war, wo man sagen würde, der rüttelt am Kanzleramt. Er war immer sehr analytisch und kontrolliert." Und hätte stets darauf geachtet, was sich thematisch durchsetzen lasse und wo man eine Runde drehen müsse.
Weil ein strategisch-denkender Scholz für die SPD zwar sehr von Vorteil ist, aber nicht ausreicht, hat man für die Wahl einen erfolgreichen Werber ins Willy-Brandt-Haus geholt: Raphael Brinkert, Ex-CDU-Mitglied, ist für die Kampagne verantwortlich, die Scholz als Erfahrenen und als Stabilitätsgarant präsentiert. Wie auf den Plakaten, die im ganzen Land hängen. Auch dort, wo Annegret Raulfs ihren Kaffee trinkt. Mittlerweile sagt sie, gefalle ihr der Gedanke von einem Kanzler Scholz sehr gut. Und ja, es wäre komisch, wenn sie ihn jetzt nicht wählen würde.
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