IS-Konflikt: Offensive der Euro-Salafisten
Jetzt hat der blutige Konflikt zwischen den Kurden in Nordsyrien und den Extremisten des "Islamischen Staates" (IS) endgültig auch europäische Städte erreicht. In Hamburg etwa gerieten kurdische Demonstranten und Salafisten (radikale Muslime) aneinander. In Celle konnte die Polizei Straßenschlachten zwischen jesidischen Kurden und muslimischen Tschetschenen verhindern. Auch in der Türkei kam es zu Zusammenstößen (siehe Grafik) – 19 Menschen starben.
"Brauchen Waffen"
Die Lage in der umkämpften nordsyrischen Stadt Kobane bezeichnet Ali Can als "dramatisch, aber nicht hoffnungslos – wir werden nicht aufgeben". Die Luftangriffe der Anti-Islamisten-Allianz auf Stellungen der IS hätten begrenzte Wirkung gezeigt, doch sie würden nicht ausreichen. Am Mittwoch konzentrierten sich die Gefechte auf den Ostteil der Stadt.
In der Nacht zum Donnerstag seien die Islamisten mit schweren Waffen, darunter Panzer, in zwei Bezirke von Kobane eingedrungen, sagte der hochrangige kurdische Politiker Asya Abdullah der Nachrichtenagentur Reuters. Die Gefechte seien sehr heftig. Womöglich seien Zivilisten getötet worden. Ein weiterer kurdischer Politiker sagte, trotz anhaltender Luftangriffe sei es den Islamisten gelungen, einige Gebäude am östlichen Rand der Stadt zu besetzen.
Die kurdischen Volksschutzmilizen und die PKK-nahen Einheiten der syrisch-kurdischen Partei PYD sind den IS-Angreifern ausrüstungsmäßig klar unterlegen. "Wir wollen panzerbrechende Waffen", appellierte daher der Ko-Vorsitzender der PYD, Salih Muslim, an die Staatengemeinschaft.
Kurz für Kurden-Hilfe
Doch diese zögert und belässt es im Wesentlichen bei Solidaritätsaufrufen. "Die Kurden, die an vorderster Front stehen, sind bei ihrem Kampf gegen die IS-Terroristen von der internationalen Gemeinschaft so gut wie möglich zu unterstützen", sagte Außenminister Sebastian Kurz und verwies auf die österreichische Hilfe im humanitären Bereich. "Ich verstehe die Bedenken nicht, Kriegsgerät zu liefern", so Kurden-Vertreter Can, "wenn der IS vertrieben ist, kann man die Waffen ja wieder einsammeln!"
Massive Vorwürfe erhebt er gegen Ankara: "Die Türkei blockiert alles. Um frische Einheiten nach Kobane zu bringen und generell für eine bessere Logistik, bräuchten wir die Korridore, die über türkisches Territorium führen. Doch das verweigert die Regierung in Ankara. Sie soll endlich den Weg freimachen, dass wir uns besser selbst verteidigen können."
Doch das liegt so gar nicht im Interesse des türkischen Präsidenten Recep Tayyip Erdogan, der heute in Ankara mit dem neuen NATO-Generalsekretär Jens Stoltenberg zusammentreffen wird. Die drei selbstverwalteten kurdischen Zonen in Nordsyrien, wovon eine jetzt vor dem Fall steht, waren der Türkei immer schon ein Dorn im Auge. Die Furcht: Ein zweiter kurdischer De-facto-Staat vor der Haustüre (nach der kurdischen Autonomieregion im Nordirak) könnte den kurdischen Separatismus in der Türkei beflügeln.
Die Schlacht um die nordsyrische Stadt Kobane an der Grenze zur Türkei ist nicht nur ein Beispiel dafür, wie eine hochgerüstete und rücksichtslose Miliz wie der "Islamische Staat" (IS) ihren Einflussbereich im Bürgerkriegsland Syrien ausweiten kann. Die Lage in der Stadt wirft auch ein Schlaglicht auf das Spiel der Machtinteressen im Hintergrund.
Rolle der Türkei
Heftig kritisiert wird unter anderem das Verhalten der Türkei. Obwohl die Regierung in Ankara über die mit 600.000 Mann zweitstärkste Streitmacht der NATO verfügt und zudem zusätzliche Truppen und Panzer an die Grenze bei Kobane verlegt hat, will sie bisher nicht in den Kampf um die Stadt eingreifen. Die türkischen Soldaten sollen lediglich das eigene Territorium verteidigen, falls es angegriffen wird.
Den Kurden in Kobane zur Hilfe eilen sollen die türkischen Truppen nicht, obwohl die Armee Ankaras in einer Auseinandersetzung gegen den IS mit ihrer hochgerüsteten Luftwaffe und ihrer Kampferfahrung aus dem langen Krieg gegen die kurdische Rebellenorganisation PKK wohl keine großen Schwierigkeiten hätte.
Es ist unter anderem eben jener Konflikt gegen die PKK, die Ankara zögern lässt. Kobane und die anderen Kurdengebiete in Nordsyrien werden von der Demokratischen Unionspartei (PYD) beherrscht, einem Ableger der PKK. Direkte Hilfe für Kobane wäre also gewissermaßen Hilfe Ankaras für die PKK und damit für die türkische Regierung innenpolitisch höchst riskant.
Kurdenpolitiker werfen der türkischen Führung vor, dem Sturm des IS auf Kobane auch deshalb tatenlos zuzuschauen, weil mit einer Eroberung der Stadt die kurdische Selbstverwaltung in der Region enden würde. Kurdische Autonomie sei aus Sicht der Türkei keine wünschenswerte Entwicklung vor der eigenen Haustür.
Interview mit Menschenrechtsexperten Manfred Nowak zum Vormarsch des IS: "Dürfen nicht zuschauen"
Türkische Bedingungen
Ein stärkeres türkisches Engagement gegen den IS macht Ankara von einer Strategie-Änderung der USA abhängig: Erst wenn Washington die Luftangriffe in Syrien auf die Truppen des syrischen Präsidenten Bashar al-Assad ausweitet, will Regierungschef Davutoglu die türkische Armee in Marsch setzen. Denn für die Türkei ist das Hauptziel in Syrien nicht die Zerschlagung des IS, sondern die Entmachtung Assads – mit dem die PYD einen Nichtangriffspakt haben.
Nicht nur die Türkei verfolgt in Syrien knallhart ihre eigenen Interessen. Die USA schauten drei Jahre lang dem Gemetzel im syrischen Bürgerkrieg zu und starteten die Luftangriffe auf den IS erst, als amerikanische Diplomaten und Ölfirmen im nordirakischen Erbil durch den Vormarsch der IS-Extremisten bedroht waren. Auch für die USA stehen die Kurden von Kobane nicht sehr hoch auf der Prioritätenliste.
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Keine Bodenoffensive
Bei anderen ausländischen Mächten sieht es nicht viel anders aus. Europäische Länder wie Großbritannien, Frankreich oder Deutschland beteiligen sich zwar mit Luftschlägen und Waffenlieferungen an die nordirakischen Kurden am Kampf gegen den IS, sind aber nicht gewillt, das Leben ihrer Soldaten bei einer Bodenoffensive gegen die Dschihadisten etwa in Kobane aufs Spiel zu setzen.
Zudem müssen sich die Europäer vorhalten lassen, zwar die Tragödie in Syrien zu beklagen, sich aber gleichzeitig zu weigern, etwa den Türken einen Teil der Last bei der Versorgung syrischer Bürgerkriegsflüchtlinge abzunehmen. Insgesamt bietet die Türkei bisher rund 1,7 Millionen Menschen aus dem Nachbarland Unterschlupf. Allein in den vergangenen drei Wochen hat die Türkei mit rund 180.000 Syrern mehr Flüchtlinge aufgenommen als die ganze EU in drei Jahren.
Wenn es um die Wahrung eigener Interessen geht, stehen die Europäer und Amerikaner den Türken also in nichts nach.
Die Situation der Menschen in und um Kobane ist dramatisch – und niemand greift ein", ist Manfred Nowak von den menschlichen Tragödien erschüttert, die sich im syrisch-türkischen Grenzgebiet abspielen. "Ich sehe auch keine Bereitschaft, egal, von wo – nicht von der Türkei, nicht von den USA –, sich ein UN-Mandat dafür zu besorgen", sagt der Professor für internationales Recht und Menschenrechte an der Uni Wien im KURIER-Gespräch. "Aber wir dürfen nicht zuschauen, wie Menschen hingeschlachtet werden", sagt Nowak. Wobei auch die Türkei nicht ohne UN-Mandat eingreifen dürfte, außer sie werde selbst angegriffen. "Aber ich glaube nicht, dass sich die IS-Kämpfer mit der Türkei und damit mit der NATO anlegen."
Die Verantwortung für den Schutz der Zivilbevölkerung liege bei allen 193 UN-Mitgliedsstaaten, so Nowak. Denn dazu haben sich alle 2005 verpflichtet – auf Drängen von Kofi Annan und dem Versagen aller im vorhersehbaren Völkermord in Ruanda und den ethnischen Säuberungen und Verbrechen gegen die Menschlichkeit im früheren Jugoslawien – allen voran in Srebrenica.
Eine Analyse, wieso niemand Kobane zu Hilfe kommt, lesen Sie hier.
Von einem "zweiten Srebrenica" will Nowak bei Kobane nicht sprechen, "weil wir nicht wissen, wie viele Zivilisten noch in der Stadt sind". Zudem sei Kobane – anders als Srebrenica, wo 1995 mehr als 7000 Bosniaken ermordet wurden – keine abgeriegelte Enklave.
Unabhängig davon sei die internationale Gemeinschaft zum Eingreifen verpflichtet. Denn seit 2005 gilt: "Wenn Völkermord oder schwere Kriegsverbrechen oder Verbrechen gegen die Menschlichkeit oder ethnische Säuberungen drohen, muss die internationale Gemeinschaft seiner damals vereinbarten Schutzverantwortung für die Zivilbevölkerung nachkommen", erklärt Nowak.
In der politischen Realität ist die Sache komplizierter. Russland schützt bis heute das mit ihm verbündete Assad-Regime; im syrischen Hafen Tartus hat Russland seinen einzigen Militärstützpunkt am Mittelmeer. Und auch China würde eine derartige UN-Resolution blockieren. Daher hat kein Land versucht, ein UN-Mandat für eine Intervention zu bekommen. Nicht einmal der Einsatz von chemischen Waffen durch das Assad-Regime änderte etwas daran.
Kein Signal an Assad
Nowak: "In Wahrheit hätte die Weltgemeinschaft schon 2011 in Syrien eingreifen müssen – so wie sie es in Libyen mit UN-Mandat gegen das Gaddafi-Regime gemacht hat, das die eigene Bevölkerung bombardiert hat." Doch gerade Gaddafis Sturz, den Russland nicht wollte, brachte alles in der UNO zum Stehen. "Dabei hätte man dem Assad-Regime gleich zu Beginn etwa durch Wirtschaftssanktionen klar Einhalt gebieten müssen. Damals begann das Regime seinen Kampf gegen die eigene, noch friedlich demonstrierende Bevölkerung auf brutalste Weise", so Nowak. Das Stoppsignal kam nicht. "So ging Assad immer weiter und schreckte selbst vor dem Einsatz von Chemiewaffen nicht zurück."
Es mischten sich arabische Staaten und die USA ein, radikal-islamische Milizen gewannen an Terrain, das Netz der Akteure in Syrien wurde immer unübersichtlicher. Der Westen verfiel in Schockstarre. Bis zum raschen und brutalen Vormarsch der IS-Milizen im Irak. Spätestens als die Ölfelder und Raffinerien in Gefahr waren, schrillten im Westen die Alarmglocken. Luftangriffe folgten – ohne UN-Mandat, aber auf Ersuchen der irakischen Regierung.
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