Kobanes Fall: Warum niemand der Stadt zu Hilfe kommt

Der Vormarsch des IS scheint unaufhaltsam.
Die Türkei verfolgt in Syrien vor allem eigene Ziele – genauso wie auch die USA und die EU. Komplizierte Allianzen und Rivalitäten prägen den Konflikt.

Die Schlacht um die nordsyrische Stadt Kobane an der Grenze zur Türkei ist nicht nur ein Beispiel dafür, wie eine hochgerüstete und rücksichtslose Miliz wie der "Islamische Staat" (IS) ihren Einflussbereich im Bürgerkriegsland Syrien ausweiten kann. Die Lage in der Stadt wirft auch ein Schlaglicht auf das Spiel der Machtinteressen im Hintergrund.

Rolle der Türkei

Heftig kritisiert wird unter anderem das Verhalten der Türkei. Obwohl die Regierung in Ankara über die mit 600.000 Mann zweitstärkste Streitmacht der NATO verfügt und zudem zusätzliche Truppen und Panzer an die Grenze bei Kobane verlegt hat, will sie bisher nicht in den Kampf um die Stadt eingreifen. Die türkischen Soldaten sollen lediglich das eigene Territorium verteidigen, falls es angegriffen wird.

Den Kurden in Kobane zur Hilfe eilen sollen die türkischen Truppen nicht, obwohl die Armee Ankaras in einer Auseinandersetzung gegen den IS mit ihrer hochgerüsteten Luftwaffe und ihrer Kampferfahrung aus dem langen Krieg gegen die kurdische Rebellenorganisation PKK wohl keine großen Schwierigkeiten hätte.

Es ist unter anderem eben jener Konflikt gegen die PKK, die Ankara zögern lässt. Kobane und die anderen Kurdengebiete in Nordsyrien werden von der Demokratischen Unionspartei (PYD) beherrscht, einem Ableger der PKK. Direkte Hilfe für Kobane wäre also gewissermaßen Hilfe Ankaras für die PKK und damit für die türkische Regierung innenpolitisch höchst riskant.

Kurdenpolitiker werfen der türkischen Führung vor, dem Sturm des IS auf Kobane auch deshalb tatenlos zuzuschauen, weil mit einer Eroberung der Stadt die kurdische Selbstverwaltung in der Region enden würde. Kurdische Autonomie sei aus Sicht der Türkei keine wünschenswerte Entwicklung vor der eigenen Haustür.

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Türkische Bedingungen

Ein stärkeres türkisches Engagement gegen den IS macht Ankara von einer Strategie-Änderung der USA abhängig: Erst wenn Washington die Luftangriffe in Syrien auf die Truppen des syrischen Präsidenten Bashar al-Assad ausweitet, will Regierungschef Davutoglu die türkische Armee in Marsch setzen. Denn für die Türkei ist das Hauptziel in Syrien nicht die Zerschlagung des IS, sondern die Entmachtung Assads – mit dem die PYD einen Nichtangriffspakt haben.

Nicht nur die Türkei verfolgt in Syrien knallhart ihre eigenen Interessen. Die USA schauten drei Jahre lang dem Gemetzel im syrischen Bürgerkrieg zu und starteten die Luftangriffe auf den IS erst, als amerikanische Diplomaten und Ölfirmen im nordirakischen Erbil durch den Vormarsch der IS-Extremisten bedroht waren. Auch für die USA stehen die Kurden von Kobane nicht sehr hoch auf der Prioritätenliste.

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Keine Bodenoffensive

Bei anderen ausländischen Mächten sieht es nicht viel anders aus. Europäische Länder wie Großbritannien, Frankreich oder Deutschland beteiligen sich zwar mit Luftschlägen und Waffenlieferungen an die nordirakischen Kurden am Kampf gegen den IS, sind aber nicht gewillt, das Leben ihrer Soldaten bei einer Bodenoffensive gegen die Dschihadisten etwa in Kobane aufs Spiel zu setzen.

Zudem müssen sich die Europäer vorhalten lassen, zwar die Tragödie in Syrien zu beklagen, sich aber gleichzeitig zu weigern, etwa den Türken einen Teil der Last bei der Versorgung syrischer Bürgerkriegsflüchtlinge abzunehmen. Insgesamt bietet die Türkei bisher rund 1,7 Millionen Menschen aus dem Nachbarland Unterschlupf. Allein in den vergangenen drei Wochen hat die Türkei mit rund 180.000 Syrern mehr Flüchtlinge aufgenommen als die ganze EU in drei Jahren.

Wenn es um die Wahrung eigener Interessen geht, stehen die Europäer und Amerikaner den Türken also in nichts nach.

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