"Shame on you!", "Nehammer, du Gangster, bald bist du weg vom Fenster", "Schleich di, Orbán" – die Schilder und Protestrufe der Handvoll "Omas gegen Rechts" und Aktivisten von "SOS Balkanroute" lösten bei Viktor Orbán und Karl Nehammer nur Kopfschütteln und höfliches Gelächter aus. Auf den Bildern, die das ungarische Staatsfernsehen aufnahm, sah man die Protestierenden gar nicht. Nur die beiden lachenden Regierungschefs.
Der ungarische Ministerpräsident wurde als Erster vom Kanzler in Empfang genommen. Knapp zehn Minuten später kam der serbische Präsident Aleksandar Vučić, der dritte im Bunde, vor der Hofburg an, von genauso vielen Protestrufen begleitet. Nehammer hatte zu einem Migrationsgipfel geladen, eine Wiener Fortsetzung von zwei bereits voraus gegangenen Treffen in Budapest und Belgrad. Auch die Außenminister und Polizeichefs der drei Länder waren anwesend.
"Das Asylsystem der Europäischen Union ist kaputt und funktioniert nicht", die bilaterale Zusammenarbeit hingegen sehr gut, eröffnete der Kanzler mit einem Seitenhieb gegen Brüssel, nachdem er seine Gäste beim Vornamen begrüßt hatte. Österreich, Ungarn und Serbien seien von irregulärer Migration stark betroffen, in der Union habe dafür lange das Problembewusstsein gefehlt.
Doch gemeinsam habe man "die Asylbremse" gezogen: Serbien habe die Visaliberalisierung für Inder und Tunesier im Dezember bzw. Jänner zurückgenommen, seitdem sei die Zahl der Asylanträge extrem gesunken.
Rückgang von Asylanträgen
Im Oktober des Vorjahres waren es 18.451, im heurigen Mai 4.354. Von 1. bis 25. Juni gab es laut Bundeskanzleramt nur mehr 98 Anträge indischer Staatsbürger in Österreich sowie 24 aus Tunesien (Oktober 2022: 3.579 Anträge aus Indien, 1.803 aus Tunesien).
Nehammer sprach davon, die Zusammenarbeit der drei Länder vertiefen und effizienter gestalten zu wollen. Österreichische Polizisten würden weiterhin in Ungarn und Serbien stationiert (derzeit sind es 20, geplant sind 70); künftig wolle man die "Strukturen hinter den Schleppern angehen". Immer wieder betonte er die "Zusammenarbeit auf Augenhöhe", an der Österreich weiter festhalten werde. In einem "Memorandum of Understanding" einigten sich die Länder auf eine neue Taskforce, um gemeinsam den Grenzschutz zu verbessern.
Orbán nutzte die Bühne für weitaus provokantere Worte: Ohne Ungarn und Serbien wären Österreich, Deutschland und die Niederlande "mit Hunderttausenden Migranten mehr als heute" konfrontiert. "Wenn wir unsere Pflicht nicht täten, wären Sie in großer Sorge", mahnte er die anwesenden Journalisten. 330.000 Menschen habe Ungarn im Vorjahr aufgegriffen, 270.000 davon an der ungarisch-serbischen Grenze.
Orbán gegen "Migrantengettos"
Die unlängst von den EU-Innenministern beschlossene Quotenregelung der Asylreform, gegen die sich Ungarn und Polen stellen, nannte Orbán eine "Zwangsverteilung", sprach von "Migrantengettos" und "Migrantenlagern". Ungarn werde "rechtliche und politische Mittel finden", um sich "dagegen zu wehren".
Nicht zur Sprache – zumindest nicht vor den versammelten Journalisten aus In- und Ausland – kamen die Hunderten von Schleppern, die Ungarn erst vor Kurzem "aus Platzgründen" aus den Gefängnissen freigelassen hatte. Dass Ungarn Migranten nach Österreich einfach durchwinkt, kritisierte Nehammer – "80 Prozent kommen durch Ungarn nach Österreich, und wir haben dann 109.000 Asylanträge und Ungarn hat 45" –, nachdem Orbán Ungarn als "einzigen migrantenfreien Ort in Europa" gerühmt hatte.
Migrationsexpertin Judith Kohlenberger erinnert gegenüber dem KURIER an die Untergrabung Ungarns des bestehenden EU-Rechts. "Sogar der EuGH hat geurteilt, dass die Asylregeln in Ungarn zu sehr verschärft wurden. Es ist zurzeit nicht möglich, in Ungarn einen Asylantrag zu stellen. Das geht nur in Form einer Absichtserklärung in den Botschaften in Belgrad oder Kiew." Kohlenberger hätte sich "Tacheles" und "eine harte Kante gegenüber Viktor Orbán" vom Kanzler erwartet, zumal Ungarns Vorgehen Folgen für Österreich habe.
Von Amnesty International und asylkoordination österreich, den Grünen, SPÖ und FPÖ hatte es im Voraus Kritik an dem Gipfel gegeben. SPÖ-Sicherheitssprecher Reinhold Einwallner nannte das Treffen einen "vollen Reinfall, der Österreich nichts gebracht hat" und "eine Bühne für Orbán (gewesen), auf der dieser seine Unwahrheiten verbreiten und Österreich drohen konnte".
Die Pressekonferenz endete mit drei Fragen, die zugelassen wurden: eine von der apa, eine vom serbischen und eine vom ungarischen Staatssender. Die apa nutzte das Momentum, um danach zu fragen, ob die Ratifizierung des ungarischen Parlaments von Schwedens NATO-Beitritt angesichts des Gipfels des Militärbündnisses nächste Woche fix bis in den Herbst aufgeschoben sei. Der ungarische Ministerpräsident gab einmal mehr seine Sicht der Dinge wieder: Die ungarische Regierung habe sich bereits "positiv" zum schwedischen Beitritt geäußert: "Wenn wir etwas zu tun haben, werden wir handeln." Nein, die ungarische Regierung zögere die Entscheidungen nicht hinaus.
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