Nur er darf Putin ungestraft beleidigen
Wenn Igor Girkin vor der Kamera steht, sieht das immer etwas amateurhaft aus. Hinter ihm hängt dann eine „Neurussland“-Flagge, die Flagge des besetzten Separatistengebiets also, oft ein bisschen schief, das Licht ist schlecht. Girkin selbst, ein gedrungener Schnurrbartträger im Karohemd, brummelt Sätze wie: „Im Kreml, da sitzen Idioten“ oder „die russische Führung hat in der Ukraine komplett versagt“.
Ein russischer Armeeveteran, ein „Held“ des Ukrainekriegs, der ungestraft Putin beschimpfen kann: Wie geht das in Zeiten, in denen Normalbürger in Russland schon wegen einer geposteten Friedenstaube für Monate ins Gefängnis wandern?
Der „Held“ von 2014
Wer glaubt, hier säße ein unbedeutender Putin-Kritiker, der sich seine Tiraden hauptsächlich selbst erzählt, irrt. Girkin, Ex-FSB-Oberst mit dem Kampfnamen „Strelkow“ – eine Anspielung an das russische Wort „Strelok“ für Schütze – ist in Russland eine große Nummer, und in der Ukraine ist er wohl einer der verhasstesten Russen überhaupt.
Er war es, der 2014 jenen Funken zündete, der sich bis heute zum Flächenbrand auswuchs: „Strelkow“ dirigierte die Annexion der Krim, marschierte später mit 50 ihm ergebenen Söldnern Richtung Donbass und rekrutierte dort eine Armee von Freischärlern, die die angebliche „Kiewer Junta“ bekämpfte und die Ostukraine zu „russifizieren“ begann. „Den Startknopf des Krieges habe ich gedrückt“, rühmte er sich damals in Interviews, für viele war das der Beginn des Terrorregimes im Donbass.
Jetzt sitzt Girkin, der „Held des russischen Frühlings“, wie Moskau seinen provozierten Krieg in der Ostukraine damals nannte, in seiner Heimatstadt Moskau und schimpft. Weitab von Bomben und Granaten schnaubt er in die Kamera, dass Verteidigungsminister Schoigu „korrupt“ und „unfähig“ sei, dass Putin und seine Getreuen nicht „hart“ genug gegenüber den „Ukrops“ seien, wie er die Ukrainer immer nennt. „Ukrops“, das impliziert: minderwertige Menschen, „Untermenschen“ hätten die Nazis wohl gesagt. Mit seiner menschenverachtenden Ideologie hält „Strelkow“ nicht hinterm Berg.
Putin ist ihm zu weich
Seine Position ist nicht die eines Putin-Kritikers nach westlichem Geschmack, im Gegenteil. „Strelkow“ ist der Hardliner unter den Hardlinern: Ihm ist sogar Putin zu verweichlicht. Das ließ er schon 2014 durchblicken, als Moskau sich diskret von ihm distanzierte. Seine Verbindungen zum FSB waren offiziell 2013 gekappt worden. Angesichts der Liste an Kriegsverbrechen, die ihm zur Last gelegt werden, war das nur vorausschauend. In den 1990ern soll er an Massakern in Bosnien-Herzegowina, Transnistrien und Tschetschenien beteiligt gewesen sein, im Donbass soll er unzählige Zivilisten entführt, gefoltert und ermordet haben. Auch der Abschuss der malaysischen Passagiermaschine MH17 mit 298 Toten geht auf sein Konto, er wird deshalb per internationalem Haftbefehl gesucht.
Seine Tiraden, die er auf allen sozialen Kanälen verbreitet und die ein Millionenpublikum verfolgt, lässt sich der Kreml aber nur scheinbar gefallen. Girkin ist Teil der „Systemopposition“, mit der Putin sein Regime schon immer im Gleichgewicht hielt: Echte Opposition ist in Russland aufgrund der Repressionen schon lange keine mehr wahrnehmbar, darum simuliert der Kreml Gegenstimmen – etwa mit pseudokritischen Retortenparteien, die in der Duma ein paar Mandatare sitzen haben. Wenn Girkin also davon spricht, dass Putin „im besten Fall so enden wird wie Milošević“ wird, vor dem Kriegsverbrechertribunal in Den Haag also, „im schlechtesten Fall sogar wie Gaddafi“, der von Rebellen gestürzt und getötet wurde, dann hat das Methode. Girkin soll den Frust jener Ultranationalen kanalisieren, die mit dem Kriegsverlauf nicht zufrieden sind – denen Putin einfach zu wenig radikal ist.
Wie viele Russen so denken, ist freilich fraglich. Das Gros der Menschen mag den Krieg laut Umfragen unterstützen, aber selbst dafür sterben will kaum jemand – darum vermeidet der Kreml auch eine Generalmobilisierung. Die Menschen, für die „Strelkow“ Katalysator sein soll, sind mehrheitlich vergangenheitsbesessene Imperialisten und Ultraradikale – sie sitzen meist in der Staatssicherheit, also jenen Kreisen, die Putin groß werden ließen.
„Ventil“ für Radikale
Sie sind die einzigen, denen derzeit zugetraut wird, eine Palastrevolution im Kreml anzuzetteln. Das ist der eigentliche Grund, warum Putin Girkin auf allen Kanälen geifern lässt: Er dient als Ventil, soll aufkeimenden Ungehorsam kanalisieren. So nimmt der Druck auf Putin keine massiven Ausmaße an, seine Geheimdienste können kontrollieren, was der „Kritiker“ sagt. „‚Strelkow‘ stellt den Anti-Putinisten nur dar. Er hat Beschützer, er darf diese Dinge sagen“, analysiert Mark Fejgin, ein bekannter Kremlkritiker. Darauf deutet auch hin, dass seine militärische Expertise erstaunlich akkurat ist, er deshalb sogar im Westen zitiert wird – dafür muss er beste Kontakte zu den russischen Geheimdiensten haben.
Für „Strelkow“ scheint es aber zu reichen, eine Marionette der Macht zu sein. Immerhin kann er so ungehindert seine Auslöschungsfantasien ausleben. Erst kürzlich sagte er: „Wäre ich an der Macht, würde es die Ukraine längst nicht mehr geben.“
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