Beschädigte Brücken, gezieltes Artilleriefeuer, große Ankündigungen – im Moment sieht es danach aus, als ob die ukrainische Offensive im Süden des Landes erfolgreich wäre. Doch Russland schläft nicht.
Die russisch besetzte Stadt Cherson sei „so gut wie von russischem Nachschub abgeschnitten“, heißt es aus Kiew. Die Offensive gegen die Besatzer im Süden mache „Fortschritte, während die Russen demoralisiert sind“, heißt es vom britischen Geheimdienst. Öffnet sich ein Möglichkeitsfenster? Und was wäre überhaupt ein Sieg? Der KURIER versucht, die wichtigsten Fragen zu beantworten.
Kiew spricht von Fortschritten im Raum Cherson: Was ist da dran?
In den vergangenen Tagen war es den ukrainischen Streitkräften möglich, die zwei Antoniwka-Brücken im Raum Cherson zu bombardieren und zu beschädigen. Auch wenn sie noch passierbar sind, soll das die russischen Nachschub- und Rückzugswege kappen, die Stadt Cherson isolieren. Gleichzeitig schafften es die Ukrainer, zahlreiche russische Munitionslager zu zerstören.
Das klingt nach viel, doch am Frontverlauf hat sich in den vergangenen Wochen nichts signifikant geändert. Es herrscht ein Abnützungskrieg, der vor allem durch Material und Moral entschieden wird. Die Nachschubwege in den Süden sind sicherer als jene in den Donbass. Ein Vorteil für die Ukraine. Derzeit liegen etwa 20 Kilometer zwischen der Front und Cherson und etwa 45 Kilometer zwischen der Front und Nova Khakowa. Diese Stadt verfügt über die letzte der drei Brücken über den Dnepr. Auch wenn bereits provisorische Brücken verlegt werden – eine stabile Brücke werden sie nicht ersetzen können.
Was ist das wahrscheinliche Ziel der ukrainischen Streitkräfte?
Vor wenigen Wochen kündigte Kiew eine „Eine-Million-Mann-Armee“ an, mit der der Süden zurückerobert werden solle. Es ist zu bezweifeln, dass eine solche Masse an Kämpfern an einem Ort gesammelt werden kann (die gesamte Frontlinie ist so lang wie von Lissabon nach Warschau). Zudem wäre eine so gewaltige Armee im flachen Steppen-Gelände viel zu leicht sichtbar. Dennoch sieht es ganz danach aus, dass die Ukraine versucht, die russischen Truppen über den Dnepr zurückzuschlagen. Damit hätte man vor dem Winter eine natürliche Barriere geschaffen und könnte einen möglichen russischen Angriff auf die Hafenstadt Odessa im kommenden Frühjahr extrem schwierig machen. Sollte dieses Ziel scheitern, dürften die ukrainischen Streitkräfte alles daran setzen, zumindest die Stadt Cherson zu belagern.
Die Oblast-Hauptstadt liegt am westlichen Ufer des Dnepr, ist also ein Brückenkopf für die russischen Streitkräfte, die Cherson am 2. März einnahmen. Für Moskau wäre ein Verlust der Stadt aber nicht nur eine taktische Niederlage: Aus dem Oblast Cherson will Putin eine „unabhängige“ Separatistenrepublik nach Vorbild Lugansk und Donezk machen. Ohne Hauptstadt ließe sich das schlecht verkaufen.
Welche Rolle spielt vom Westen gelieferte Artillerie? Würde mehr davon den Kriegsverlauf massiv ändern?
Eine große. Vor allem die HIMARS (mobile Artilleriesysteme) konnten in den vergangenen Wochen vor allem im Raum Cherson erheblichen Schaden anrichten, mit ihrem präzisen Feuer punktgenau russische Ziele wie Munitionsdepots angreifen. Vergangenes Wochenende konnten die Ukrainer sogar allumfassend einsetzbare S-300 Flugabwehrsysteme – die die Russen auch als Artillerie nutzten – zerstören. Auch die Bombardements der Brücken dürften von HIMARS durchgeführt worden sein. In den vergangenen Tagen gab es weniger Berichte über deren Einsätze, wohl weil es an Munition mangelt.
Die Zeit drängt, denn die russischen Streitkräfte sind fieberhaft auf der Suche nach einer Gegenstrategie, haben bereits ihre Munitionslager dezentralisiert.
Wie sieht die Entwicklung an anderen Fronten – also im Donbass – aus?
Während ukrainische Truppen in Charkiw und im Norden durch Artillerieangriffe gebunden werden, rücken die russischen Truppen langsam aber sicher auf die Stadt Kramatorsk vor. Deren Einnahme dürfte ein Hauptziel der Russen vor dem Winter sein.
Hat die Ukraine eine Chance, den Krieg zu gewinnen – also auch die besetzten Gebiete zurückzuerobern?
In diesen Dimensionen dürfte in der ukrainischen Armee derzeit niemand ernsthaft denken. Schaffen es die Streitkräfte, Cherson einzunehmen und die russischen Truppen über den Dnepr zurückzudrängen, wäre ihnen damit ein großer Sieg gelungen. Doch vor allem im Donbass haben die russischen Streitkräfte derzeit eindeutig das Momentum. Was dann tatsächlich als Sieg gewertet wird, wird die Politik entscheiden.
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