Nastja hält den Besen fest in der Hand, sie sieht auf den Boden, kehrt und kehrt. Doch die Scherben werden nicht weniger. „Ich habe noch immer Angst. So viel Angst“, sagt sie, ihre Tränen fließen. Sie deutet nach hinten, auf die abgebrannten Häuser, sie sehen aus wie Gerippe.
Hier in Hostomel nahe der ukrainischen Hauptstadt Kiew hat der Krieg begonnen, hierher kamen die Russen mit ihren Hubschraubern zuerst, zerbombten den Militärflughafen. Nastja war dabei, ihre Damen vom Putztrupp ebenso; sie erzählen Geschichten, wie die von den hunderten Bewohnern, die die Russen damals verschleppt hätten. Was mit ihnen geschah? Sie weiß es nicht, ebenso wenig wie der Kommandeur der Nationalgarde, die hier stationiert ist.
Der Krieg von heute ist ein anderer als er damals war. Für Nastja findet er noch immer im Kopf statt, und seit nicht mehr in den Kiewer Vororten gekämpft wird, sondern gut 600 Kilometer weiter ost- und südwärts, hat sich auch in den Köpfen der Europäer so einiges verschoben: Die große Empathie, die zu Beginn aus dem Westen für die Ukraine kam, wird langsam weniger.
KURIER-Redakteurin Evelyn Peternel in Irpin vor Kiew
Im Dilemma
Alexander Schallenberg weiß um dieses Dilemma nur zu gut, als er am Mittwoch in Hostomel steht und in den ausgebrannten Militäranlagen eine Zigarette raucht. Als der österreichische Außenminister später dem Bürgermeister von Irpin zuhört, der von Toten, Ermordeten, Geschändeten spricht, von den bis zu 1.400 Zivilisten, die allein im Kiewer Umland getötet worden sein sollen, sagt er nur: „Das ist schrecklich deprimierend.“
Er ist heute, Mittwoch, hier, um mit Präsident Wolodimir Selenskij und Außenminister Dmytro Kuleba zu sprechen, es geht um ein sichtbares Zeichen der Solidarität in Zeiten, in denen sich in Europa „die Stimmung in der Bevölkerung ändert“, wie Schallenberg sagt. Sein tschechischer Amtskollegen Jan Lipavsky, der als zweiter Teil des Slavkov-Formats dabei ist – der slowakische Außenminister Ivan Korčok fiel coronabedingt aus – nennt das, was sich in Europa breitmache, „Müdigkeit“.
Was passiert, wenn die Unterstützung im Westen schwindet, wenn Wahlen mit dem Thema geschlagen werden? Die Antwort der beiden darauf ist pragmatisch, das muss sie wohl auch sein. Lipavsky sichert den Ukrainern weiter Waffen zu und verspricht, dass Europa „sich nicht auseinanderdividieren lasse“; dafür werde Tschechien auch als Vorsitzland im Rat sorgen – das NATO-Land ist einer der größten militärischen Unterstützer der Ukraine. Auch Schallenberg verspricht das, „die Solidarität ist unerschütterlich“, sagt er, an den Sanktionen werde nicht gerüttelt.
Die Realität aber ist: In Europa ist der Krieg langsam aus den Köpfen gewichen, auch in den Medien wird weniger und weniger berichtet. Währenddessen hinterfragen die Rechtspopulisten ob der Teuerung die Sanktionen laut, und auch in Umfragen schlägt sich das nieder: In Österreich glaubt mittlerweile ein Drittel, dass die Strafmaßnahmen falsch waren, und ein weiteres Drittel ist unentschlossen.
Dieses Narrativ, sagt Schallenberg, gelte es wieder umzudrehen: Schuld an der Teuerungsmisere seien weder die Ukraine noch die Sanktionen aus Europa, sondern einzig und allein Putin, sagt Schallenberg. Er sei es, der die Getreidelieferungen blockiere und so eine globale „Hangabrutschung“ mit neuen Migrationsströmen provoziere, der handle wie ein „Irrer“, sagt der Tscheche Lipavský – Ursache und Wirkung würden hier verdreht. Russland könnte problemlos Getreide exportieren, denn die EU habe kein einziges Nahrungsmittel mit Sanktionen belegt, sagen beide. Grund der Misere sei einzig und allein „der Krieg“, so Schallenberg. „Und Putin kann ihn morgen beenden, wenn er will.“
Trügerische Ruhe
Hier in Kiew, wo die U-Bahnen teils noch mit Sandsäcken verrammelt sind, auf denen „Putin – f... dich“ geschrieben steht, fühlt sich diese europäische Realität allerdings besonders schmerzhaft an. Schon 2014 hatte man das Gefühl, vom Westen nicht ernst genommen zu werden, und man hat Angst, dass sich die Geschichte wiederholt. Denn die Ruhe in der Stadt, die offenen Geschäfte, die vollen Cafés: All das ist trügerisch. Dass Putin einen kleinen Ort westlich der Hauptstadt bombardieren hat lassen, 20 Menschen tötete, darunter Kinder, ist gerade einmal ein paar Tage her.
Igor, ein Pensionist, der in einem Park nahe der Sophienkathedrale mit ihren goldenen Kuppeln sitzt, sagt das auch. Ruhig sei es, ja, aber die Angst sitze ihm noch im Genick; er lächelt traurig. Bei Putin wisse man ja nicht, was ihm noch einfallen könnte. „Der Krieg ist nicht aus“, sagt er. „Noch lange nicht, befürchte ich.“
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