Die Wolkenkratzer Manhattans scheinen unendlich weit weg, in den Straßen der kleinstädtisch, fast europäisch anmutenden Crown Heights reiht sich die „Heimishe Bakery“ ans Schneidergeschäft, den jüdischen Apotheker, den koscheren Lebensmittelladen und kleine Backsteinhäuschen. Auf der anderen Seite der Kingston Road parkt ein Ambulanzwagen der Hatzalah, des gemeinnützigen jüdischen Rettungsdienstes. Gesundheit, Sicherheit, Religion – alle Bereiche des Lebens versuchen die Chassidim unter sich zu organisieren.
Selbst die amerikanischen Gesetze werden so weit wie möglich draußen gehalten. „Wir halten uns vom US-Rechtssystem fern“, schildert Mayer geduldig, „wir regeln unsere Streitigkeiten selbst nach unseren jüdischen Gesetzen.“
Wen die Chassidim wählen
Und wenn es wie heuer im Herbst ans Wählen eines amerikanischen Staatsoberhauptes geht? Die Chassidim, an die 200.000 in ganz New York, gehen wählen, und zwar jenen Politiker, den der Rabbi der jeweiligen Gemeinde vorschlägt. Meist fällt die Wahl der streng orthodoxen Juden in der Megacity deshalb geschlossen für die konservativen Republikaner aus.
In New York leben die meisten Chassidim außerhalb Israels. Ihre Wurzeln liegen in Polen, Rumänien, der Ukraine, als Überlebende des Holocaust und auf der Flucht vor den Kommunisten kamen sie meist erst nach dem Zweiten Weltkrieg in die USA.
Allein Brooklyn beherbergt an die 60 verschiedenen chassidischen Gemeinden, manche weltoffener wie jene, der Mayer Friedman angehört, manche schotten sich extrem ab: Ohne TV, ohne Internet, ohne öffentliche Schulen widmen sie sich einzig ihrem Glauben, lehnen alles Weltliche ab.
Sektengleich etwa leben die rund 50.000 Satmarer, die einst aus dem rumänischen Satu-Mare aussiedelten. Berühmt wurden diese durch Deborah Feldman, die mit „Unorthodox“ ein Buch über die abgeschiedene , strenge Parallelwelt ihrer Gemeinde und ihre Flucht nach Berlin verfasste.
Aber alle chassidischen Gemeinden haben eines gemein: Ihr Leben folgt ausschließlich den orthodoxen Regeln, dem Talmud und dessen 613 Vorschriften. Sie sind wie ein Schutzwall gegen die weltlichen Verführungen.
Keine geregelte Arbeit
Ein „heiliges Leben führen, indem selbst die banalsten Handlungen geheiligt werden“, lautet die Philosophie der Chassidim. Was aber auch bedeutet: Viele chassidische Männer gehen keiner geregelten Arbeit nach.
Ein Blick in das „House 770“, die älteste chassidische Synagoge der USA, zeigt es: Dumpf dringt das Murmeln und Beten und Repetieren der schwarz gekleideten frommen Männer bis hinauf in die streng abgetrennte Zuschauertribüne.
Viele Stunden verbringen sie hier, diskutieren über die Holzbänke hinweg die Vorschriften des Talmud, lernen die alten Schriften auswendig. Einen Beruf haben die wenigsten von ihnen – ihr frommes Leben gehört dem Thorastudium. Für Einkommen müssen stattdessen ihre Frauen, die amerikanische Sozialhilfe und vor allem reiche jüdische Geldgeber sorgen.
Mayer, der geduldig und freundlich eine Besuchergruppe durch Crown Hights geführt hat, bleibt vor einer Eingangstür mit der Aufschrift „Zlata wigs“ stehen: Ein Perückengeschäft. Jüdisch-orthodoxe Frauen müssen ihre Haare nach der Heirat bedecken – ob mit Tüchern oder Perücken. Ladenbesitzerin Zlata Gitlin könnte ihren vielen Kundinnen kein besseres Modell sein:
Lange, dunkelbraune, sanft wellige Haare fallen ihr über die Schulter – die eigenen Haare hat sie unter der Perücke zu einem Knoten geknüpft. „Alle Echthaar“, sagt sie stolz und zeigt auf die Hunderten, auf Stangen aufgereihten Perücken, von weißblond bis tiefschwarz. Die Perücke zählt zu den wertvollsten Schmuckstücken der chassidischen Frauen. Ab 2.200 Dollar sind sie zu haben, die teuersten kosten bis zu 7.000 Dollar. Wie viele Perücken hat eine Frau? „Manche haben bis zu fünf“, schildert Zlata lächelnd.
Nahezu jeder kennt hier jeden, in den chassidisch bewohnten Straßen der Crown Hights. Wie kann es da sein, dass Mayer noch keine Frau gefunden hat, wollen die Besucher aus dem Ausland wissen? „Ich bin das jüngste von sieben Kindern; alle meine älteren Geschwister sind schon verheiratet, da ist der Druck auf mich nicht mehr so groß“, grinst der junge Mann und streicht sich über den langen Bart. Liebesheiraten gibt es bei den Chassidim nicht; so genannte „Matchmaker“ schlagen den Eltern Personen vor, die zu deren Söhnen oder Töchtern passen könnten.
Willigen die Eltern ein, dürfen sich die jungen Leute allein treffen. „Wenn Sie einen orthodoxen Juden und eine junge Frau schüchtern in einer Hotellobby in Manhattan sitzen sehen, sprechen Sie die beiden nicht an. Das ist so ein Kennenlerngespräch“, warnt Mayer. Berührungen sind dabei selbstredend verboten, nach mehreren solchen Dates sollte klar sein: Hochzeit.
Angesichts der hohen Geburtentrate wächst die Zahl der chassidschen Juden in New York deutlich. Und nur wenige brechen aus dem starren Korsett der chassidischen Lebenswelt aus – denn wer geht, für den gibt es wie bei einer Sekte kein Zurück mehr. Und er oder sie steht vor einer völlig neuen, säkularen Welt, in der die Ausgebrochenen dringen Unterstützung beim Erlernen des Lebens in der Moderne brauchen. Die NGO „Footstep“ in New York hilft den Chassidim-Flüchtlingen: Jedes Jahr, so berichtet die Organisation, melden sich rund 150 Männer und Frauen bei ihr.
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