Es gab Zeiten, da war die Stimmung zwischen der Türkei und der EU noch schlechter als jetzt: Im Februar des Vorjahres etwa, als der türkische Präsident Recep Tayyip Erdoğan Tausende Flüchtlinge dazu missbraucht hatte, sich auf den Weg in die EU zu machen.
Oder jedes Mal, wenn Ankara türkische Gasexplorationsschiffe vor die griechische oder zypriotische Küste schickte. Oder wegen der türkischen militärischen Einmischung in Syrien, in Libyen und im Berg-Karabach-Konflikt.
„Abgesehen vom Rückzug seiner Gas-Explorationsschiffe hat sich keine der türkischen Positionen verändert“, gibt Marc Pierini, ehemaliger EU-Botschafter in der Türkei und derzeit Gastprofessor beim Think Tank Carnegie Europe, zu bedenken. Warum also reisten EU-Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen und EU-Ratspräsident Charles Michel ausgerechnet jetzt zu einem Besuch zu Erdoğan? „Es ist mir ein Rätsel“, fragt sich auch der Türkei-Kenner Pierini: „Was haben wir Europäer von diesem Besuch?“
Der Flüchtlingsdeal
Annäherung zwischen den Nachbarn war das Ziel des Kurzbesuches. „Das ist der Beginn eines Prozesses“, gab sich Kommissionschefin von der Leyen nach dem Treffen vorsichtig. Die Hoffnung liegt in erster Linie in
einer Verlängerung des EU-Türkei-Flüchtlingsdeals. 3,6 Millionen Flüchtlinge aus Syrien werden derzeit in der Türkei versorgt, großteils dank Gelder und Hilfsmaßnahmen aus der EU. Bis Anfang 2022 gibt es noch EU-Finanzierung für einige Projekte. Die EU-Kommission soll nun ermitteln, wie die Flüchtlingshilfe in der EU fortgesetzt werden kann. Denn eines soll um jeden Preis verhindert werden: Dass Erdoğan die Flüchtlinge in Richtung EU weiterziehen lässt.
Ursula von der Leyen und Charles Michel hatten aber auch noch ein Lockangebot im Gepäck: Die EU will die veraltete Zollunion mit der Türkei ausweiten. Für Ankara wäre das ein starker wirtschaftlicher Anreiz, für Erdoğan ein politischer Gewinn. Konkrete Ergebnisse des dreistündigen Treffens zwischen von der Leyen, Michael und Erdoğan gab es zunächst nicht. Es ging, wie Michel betonte, vor allem „um eine weitere Stärkung der Vertrauensbildung. Wir strecken unsere Hände aus.“
Menschenrechte
„Der Besuch verschafft dem türkischen Präsidenten Respektabilität. Und das zu Zeiten, wo es um die Wirtschaft schlecht steht und in der die Repression im Land schlimmer ist denn je“, schildert Pierini dem KURIER.
Erst vor zwei Wochen katapultierte Erdoğan die Türkei per Dekret aus der Istanbul-Konvention hinaus – ein internationales Übereinkommen zur Bekämpfung von Gewalt gegen Frauen.
Zudem läuft gerade ein Verfahren, die zweitgrößte Oppositionspartei in der Türkei zu verbieten: die prokurdische HDP soll von der Bildfläche verschwinden, fast 700 HDP-Politikern wird ein fünfjähriges Politikverbot angedroht, Ex-HDP-Chef Selahattin Demirtaș sitzt seit Jahren im Gefängnis.
Dieser Besuch war eine „Konzession an Erdoğan“, sagt Pierini. Umso heftiger drängte er darauf, dass gegenüber dem türkischen Staatschef das Thema Menschenrechte auf den Tisch gebracht werden müsse. „Wenn das nicht passiert, wäre das eine Blamage für Europa.“
Der Respekt der Menschenrechte in der Türkei sei entscheidend, beteuerte von der Leyen nach dem Treffen. Wie die EU diese von Ankara einfordern will, sagte sie aber nicht.
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