Amoklauf in München: Verletzte außer Lebensgefahr
Tausende Menschen kamen am Sonntag zum Olympia-Einkaufszentrum in München, um gemeinsam zu beten und zu trauern. Für die neun vom Amokläufer Ali David S. getöteten, meist sehr jungen Menschen; für die zehn schwer Verletzten, von denen drei noch immer in Lebensgefahr schwebten; für alle Angehörigen.
Den ganzen Tag über schon brachten Jugendliche Blumen, Kuscheltiere, Briefe, Kreuze, Kerzen. Viele brachen weinend zusammen, versuchten sich gegenseitig im Schmerz zu halten. In diesem Viertel Münchens leben viele "Zuagraste", wie es früher hieß – bevor der vermeintlich politisch korrekte Begriff des Migrationshintergrundes üblich wurde.
Verletzte außer Lebensgefahr
Drei Tage nach dem Amoklauf von München schwebt keiner der Verletzten mehr in Lebensgefahr. Dies teilten die Ermittler am Montag bei einer Pressekonferenz in München mit. Am Sonntag waren noch drei Menschen in Lebensgefahr gewesen. Insgesamt gab es laut Landeskriminalamt 35 Verletzte.
Olympia-Einkaufszentrum wieder offen
Am Montag ist das Olympia-Einkaufszentrum in München wieder geöffnet worden. Eine halbe Stunde nach der normalen Öffnungszeit konnten Besucher um 10.00 Uhr das Gebäude betreten. Wie Center-Manager Christoph von Oelhafen sagte, fand vorher ein Gedenkgottesdienst mit allen Mitarbeitern statt.
„Bevor wir zum Alltag übergehen, haben wir die Mitarbeiter zusammengeholt, damit jeder weiß, dass er nicht alleine ist“, sagte von Oelhafen. Der Gottesdienst, bei dem auch mit einer Schweigeminute der Opfer gedacht wurde, sei dankbar angenommen worden. Ihnen steht außerdem den ganzen Tag ein Kriseninterventionsteam zur Verfügung, das psychologische Hilfe anbietet. Am Montag seien kurz nach der Öffnung „relativ wenige Besucher“ da gewesen, wie von Oelhafen sagte. Nicht alle kämen an diesem Tag zum Einkaufen. Auch einige Schaulustige seien darunter. „Sensationstourismus nennt man das wohl.“ Das Center-Management hat in der Nähe der Kundeninformation ein Kondolenzbuch ausgelegt.
Möglicher Mitwisser?
Sonntagabend hat die Polizei einen 16-jährigen Afghanen unter dem Vorwurf der Mitwisserschaft festgenommen. Der Freund des 18-jährigen Amokschützen soll von dessen Plänen gewusst, diese aber nicht der Polizei gemeldet haben. Er habe sich unmittelbar nach dem Amoklauf bei der Polizei gemeldet. Deren Ermittlungen deckten am Sonntag Widersprüche in den Aussagen des 16-Jährigen auf. Der Amokläufer und der Festgenommene hatten sich 2015 während eines stationären Aufenthalts in einer Psychiatrie kennengelernt. Die Ermittler gehen davon aus, dass der 16-Jährige gewusst habe, dass der Amokschütze im Besitz einer Waffe war. Deshalb - wegen der Anwesenheit am Tatort und einer möglichen Kenntnis von der Waffe - gehen sie davon aus, „dass er etwas von der Tat gewusst haben könnte“.
Die beiden Jugendlichen teilten nach Erkenntnissen der Ermittler ihre Begeisterung für sogenannte Killerspiele am Computer und tauschten sich über das Thema Amoklauf aus. „Nach unserer Einschätzung haben sich zwei Einzelgänger getroffen“, sagte Hermann Utz von der Kriminalpolizei.
Der 16-Jährige war am Sonntagabend festgenommen worden. Er hatte sich bei vorhergehenden Befragungen durch die Ermittler in Widersprüche verwickelt. Er soll nun dem Haftrichter vorgeführt werden - wegen des Verdachts des „Nichtanzeigens einer Straftat“.
Geprüft werde auch, ob der 16-Jährige für einen Facebook-Aufruf zu einem Treffen in einem Kinokomplex in der Nähe des Münchner Hauptbahnhofes verantwortlich sei. Der Amokläufer soll Jugendliche vor seiner Tat per Facebook zu jenem McDonald's-Restaurant gelockt haben, wo er dann zu schießen begann. Die Polizei betonte, dass sie "mit allen uns zur Verfügung stehenden Mitteln" gegen Trittbrettfahrer vorgehen werde und vor Nachahmungstaten warne.
Ein Jahr lang geplant
Der 18-Jährige, der seine Tat seit einem Jahr geplant hat, wie die Ermittlungen jetzt zeigten, wusste das. So wie der Polizeipräsident auch: "Ich bin in der Gegend aufgewachsen und bin auch hin und wieder bei diesem McDonald’s", erzählt Robert Heimberger der versammelten Weltpresse am Sonntag, "die Klientel ist eher aus Migrantenfamilien."
Der Facebook-Account, mit dem Ali David S. Jugendliche ins Lokal locken wollte, war nicht gehackt, sagt Heimberger. Er war gefälscht: "Er hat Daten eines existierenden Facebook-Accounts inklusive Fotos dafür verwendet." Den Account hat er im Mai angelegt.
Ob der in Deutschland geborene Schüler, dessen Eltern aus dem Iran stammen, gezielt auf Migrantenkinder Jagd machen wollte und daher den Account eines türkischstämmigen Mädchens verwendet habe, fragen Journalisten. Doch darüber und viele weitere Mutmaßungen will Heimberger genauso wenig wie der Oberstaatsanwalt Thomas Steinkraus-Koch spekulieren. Es müssten noch so viele Menschen befragt werden, von den Eltern und dem jüngeren Bruder des Täters angefangen, die nach dem Schock noch nicht vernehmungsfähig sind, über alle Schulkollegen, Lehrer, Psychologen und Bekannte. Die Öffentlichkeit müsse sich noch in Geduld üben, man schreibe ja erst Tag zwei der Ermittlungen.
Waffe aus "Darknet"
Wichter sei, dass nun klar ist, dass es ein Einzeltäter war: 58 Patronenhülsen stellten die Ermittler sicher, eine stammt aus einer Polizeiwaffe, alle anderen aus der Glock des Täters, listete Heimberger auf. Was nach bisherigem Ermittlungsstand sonst klar ist oder zumindest eine Rolle spielt:
- Die Waffe Die Tatwaffe, eine ursprünglich unscharf gemachte und dann wieder rückgebaute Theaterpistole, habe der Schüler "sehr wahrscheinlich" über das Darknet erstanden. Also eine Parallelwelt zum Netz aus Facebook, Amazon und Nachrichtenseiten, zu der man nur mit einem speziellen Browser gelangt, und nur, wenn man genau weiß, wo man suchen muss. "Im Darknet bekommt man alles", sagt Heimberger, von illegalen Schusswaffen über Kinderpornos, Drogen, Medikamente, Falschgeld bis hin zu Killern.
Woher Ali David S. die Munition bekam, ist hingegen noch zu klären.
- Die Psyche Ali David S. war im Vorjahr zwei Monate lang in stationärer psychiatrischer Behandlung und danach in ambulanter Betreuung – zuletzt erst im vergangenen Juni. Er litt unter Depressionen und Angststörungen in Form sozialer Phobien, "also Angststörungen, wenn er mit anderen Personen in Kontakt kam", erklärte Steinkraus-Koch.
- Die Planung Im vergangenen Sommer begann der Schüler seine Vorbereitungen für die Bluttat: Er fuhr nach Winnenden, um dort Fotos von den Tatorten des Amoklaufs zu machen. Die Bilder fanden die Ermittler auf der Digitalkamera des Burschen in dessen Zimmer. Genauso wie Unterlagen und Bücher über Amokläufer und was diese dazu bewegt. Und er studierte alles über den Massenmörder Breivik, der vor fünf Jahren in Oslo und auf Utøya 77 Menschen tötete (siehe rechts oben). Ob die Eltern, der Bruder etwas bemerkt haben, lässt sich erst klären, wenn sie vernehmungsfähig sind. Das Zimmer des Burschen war jedenfalls abgesperrt.
- Ein Manifest Er hat wie Breivik ein Manifest verfasst, "darin befasst er sich mit der Tat und den näheren Umständen". Mehr wollen Heimberger und Steinkraus-Koch dazu aber noch nicht sagen.
- Die Schulkollegen Weder Schüler, die 2012 am Mobbing von Ali David S. beteiligt waren, noch aktuelle Schulkollegen sind unter den Opfern. Sie waren auch nicht unter jenen, die auf die gefakte Facebook-Einladung geantwortet haben – so sie mit ihrem richtige Namen im Netz sind.
Ob der Mobbing-Vorfall ein Motiv war? Oberstaatsanwalt Steinkraus-Koch explodiert: "Wir können nicht in ihn hineinschauen. Und anders als bei einem Festgenommenen können wir ihn nicht befragen." Die Ermittler müssten erst Stück für Stück das Mosaik zusammenbauen. "Das Bild ist noch lang nicht vollständig."
Winnenden 2015 war der Amokläufer von München in Winnenden in Baden-Württemberg und fotografierte die Plätze, an denen im März 2009 ein 17-Jähriger 15 Menschen erschossen hat. Dessen Amoklauf begann in der Albertville-Realschule, wo er zwölf Leichen hinterließ. Auf der Flucht erschoss er einen Mann und zwang einen weiteren zu einer Autofahrt nach Wendlingen. Dort erschoss er in einem Autohaus einen Kunden und einen Verkäufer. Als die Polizei ihn stellte, tötete er sich selbst.
Oslo und Utøya Ali David S. verehrte offenbar auch den rechtsradikalen Norweger Anders Behring Breivik. Der tötete am 22. Juli 2011 bei einem Bombenanschlag in Oslo und einem Massaker auf der Insel Utøya insgesamt 77 Menschen. Die meisten davon waren 14- bis 19-Jährige, die auf der Insel auf einem Sommerlager waren. Breivik schoss auch noch auf sie, als sie am Boden lagen oder durch das Wasser zu fliehen versuchten. Er wurde zu 21 Jahren Haft und Sicherungsverwahrung verurteilt. Breivik schrieb ein Manifest – so wie Ali David S. auch.
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