Mitschuld am Krieg? „USA hätten die NATO auf Eis legen sollen“
Als Berater des russischen Präsidenten Boris Jelzin und der Regierung in Polen prägte der US-Ökonom Jeffrey Sachs die Umgestaltung des ehemaligen Ostblocks maßgeblich mit. Heute sieht der Wissenschafter von der New Yorker Columbia-Universität die Rolle der USA und des Westens in Osteuropa kritisch. Der KURIER sprach mit ihm am Rande des Forum Alpbach über den Krieg in der Ukraine und die Mitverantwortung der USA.
KURIER: Der Krieg in der Ukraine dauert mehr als ein halbes Jahr. Wo sehen sie die Ursachen dieses Konflikts?
Jeffrey Sachs: Schon 1991. Der Kardinalfehler war, dass man Russland weiterhin als Feind behandelte. Die USA hätten damals, als der Warschauer Pakt zerfiel, auch die NATO auf Eis legen, vielleicht sogar auflösen sollen. Stattdessen machte man Druck, die NATO in drei Schritten zu erweitern: Osteuropa, dann das Baltikum und das Schwarze Meer ... und dann der Plan mit der Ukraine.
War das nicht die freie Entscheidung dieser Staaten? Deutschland – genauer gesagt, Außenminister Hans Dietrich Genscher – hat Sowjetchef Michail Gorbatschow zugesagt, dass sich die NATO nicht nach Osten erweitern werde. Ein Versprechen, das US-Präsident Bill Clinton bequemerweise vergessen hat.
Das ist aber 30 Jahre her.
Der Krieg in der Ukraine ist eine Folge der NATO-Erweiterung und all der Krisen und des Misstrauens, das diese seither ausgelöst hat. Biden hat unglückseligerweise abgelehnt, mit Putin über die NATO-Osterweiterung zu diskutieren. Stattdessen hat er klar gemacht, dass die NATO um die Ukraine erweitert wird. Biden hat also den letzten Ausgang, der diesen Krieg hätte verhindern können, nicht genommen.
Hätte man die Beziehungen zu Russland wirklich normalisieren können? Ich war dabei, als die russischen Führer wie Gorbatschow und später Jelzin versucht haben, Russland zu einer Rolle als normaler Staat in Europa zu verhelfen. Auch Putin wollte Russland in seinen ersten Jahren zu einem Teil Europas machen. Die USA sind darauf nicht eingegangen. Man hat auf seiner Rolle als einziger Supermacht beharrt und klar gemacht, dass man gerne über alles redet, aber nur unter der Voraussetzung, dass die USA die absolute Führungsrolle übernehmen. Die USA beharren weiterhin darauf, die einzige Supermacht zu sein. Für Russland ist die Kontrolle über das Schwarze Meer eine Notwendigkeit, für die USA ist das nur ein Baustein westlicher Kontrolle. Aber würde man in Washington eine militärische Präsenz Chinas in der Karibik akzeptieren?
Aber hat Putin wirklich etwas angeboten? Die Vorschläge, die Putin vor dem Ausbruch dieses Krieges vorgelegt hat, waren ein durchaus geeigneter Ausgangspunkt für Verhandlungen, etwa die Neutralität der Ukraine und der Stopp der NATO-Osterweiterung. Viele europäische Staatsführer haben sich früher klar gegen die NATO-Erweiterung um die Ukraine und Georgien ausgesprochen. Sie waren nur jetzt nicht mutig genug, das den USA erneut klar zu machen. Ich wiederhole: Es war ein Fehler, nicht mit Putin in diese Verhandlungen zu gehen.
Hier geht es doch um einen Kampf um Demokratie und Souveränität einer Nation? Der Rest der Welt teilt nicht diese westliche Ansicht, dort sieht man den Konflikt als Stellvertreter-Krieg zwischen Russland und den USA – und davon hat man genug. Man hat kein Interesse an der NATO-Osterweiterung, sondern an Nahrungssicherheit und Stabilität. Der Westen aber staunt, warum man in anderen Teilen der Welt nicht die Unterstützung bekommt, die man erwartet hat. Wenn Biden sagt, dass Putin gestürzt werden sollte, dann ist das nicht einfach ein Ausrutscher, das ist US-Politik. Der Krieg in der Ukraine ist ein Stellvertreter-Krieg zwischen den USA und Russland, und der ist sehr gefährlich.
Sehen Sie die Rolle der USA so problematisch? Vietnam, Kambodscha, Afghanistan, Irak – die USA sind in den letzten 40 Jahren nie so aus einem Krieg herausgekommen, wie sie es angekündigt haben. Der Ukraine kann ein ähnliches Schicksal blühen wie all diesen Staaten. Ich glaube nicht mehr die Sprücheklopferei von US-Generälen und auch nicht von US-Präsidenten. Die USA sind geradezu darauf spezialisiert, Länder wie das heutige Afghanistan zu produzieren. Es besteht die Gefahr, dass auch aus der Ukraine ein solches Afghanistan wird.
Wie aber soll dieser Krieg enden und was soll aus der Ukraine werden? Natürlich hängt viel davon ab, wie der Krieg endet. Wenn er als eingefrorener Konflikt endet, in dem Russland einen Großteil der Ukraine besetzt und der Westen Sanktionen und fortgesetzte Waffenlieferungen an die Ukraine aufrechterhält, befürchte ich, dass die Ukraine am Ende eine Generation des Leidens durchmachen wird, was meiner Ansicht nach alles hätte vermieden werden können – durch die Verhandlungen zwischen den USA und Russland im Jahr 2021 oder sogar jetzt noch.
Wenn der Konflikt durch Verhandlungen endet, wären die Grundzüge einer Lösung die ukrainische Neutralität, die russische Krim und eine Regelung für einen entmilitarisierten Donbass. Momentan steuern wir ja jeden Tag mehr auf eine Art eingefrorenen Konflikt zu, der für die Ukraine, Russland, Europa und die Welt schlimmer sein wird als ein Verhandlungsergebnis.
Aber ist eine neutrale Ukraine nicht Russland völlig ausgeliefert? Der Weg zu einem Frieden sollte vor allem mit Klugheit beschritten werden. Gerade Österreich hat diese Klugheit 1955 besessen, als man ein neutraler Staat wurde und die Russen abzogen. Vielleicht sollte man diese Positionen deutlicher mit ukrainischen Politikern erörtern. Geht es hier nicht um ganz ähnliche politische und geografische Konstellationen? Selenskij dagegen will die Krim wieder zurückerobern. Wer die historische Bedeutung dieser Halbinsel für Russland versteht, weiß, dass das eine sehr gefährliche Haltung ist.
Oft hört man, mit Putin heute zu reden ist derselbe Fehler, wie mit Hitler 1938 zu reden. Ich halte nichts von diesem Vergleich von Putin mit Hitler und mit dem angeblichen Fehler von 1938. Es war damals gut, mit Hitler zu verhandeln, es war nur nicht gut, ihm alles zu glauben und dann wie Chamberlain von „Frieden in unserer Zeit“ zu sprechen. Und das gilt heute genauso. Es ist immer gut, auch mit Gegnern zu sprechen, man sollte ständig in Gesprächen sein. Nur so lernt man die Positionen zu verstehen. Wenn man nicht redet, bleibt man nur in seinen eigenen Konzepten stecken.
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