Mit Panzern will Militär Ruhe erzwingen

Die Armee versucht die Proteste zu ersticken. In vielen Teilen Ägyptens droht Anarchie.

Die Armee ist überall. Man muss nur auf die Straße gehen, um zu merken, wie sie verstärkt auftritt.“ Mohammed gibt dem Reporter der Washington Post einen kurzen, aber klaren Überblick über die Lage in Kairo. Der Aktivist aus dem Lager des gestürzten Präsidenten Mursi will erklären, warum es auf den Straßen der Hauptstadt seit Sonntag merklich ruhiger geworden ist. Die Armee, weiterhin fest entschlossen, jeden weiteren Protest mit Gewalt zu ersticken, ist an den strategisch wichtigen Punkten der Stadt aufmarschiert: Panzer, Straßensperren und bewaffnete Patrouillen dominieren dort das Straßenbild. Die nächtliche Ausgangssperre, die mit aller Härte durchgesetzt wird, tut ihr Übriges, um vorerst einmal Ruhe zu schaffen.

Bürgerwehr

Zumindest im Zentrum der Hauptstadt, denn in den ärmeren Vierteln an der Peripherie und in vielen Städten Oberägyptens greifen die Bewohner inzwischen zur Selbstjustiz. Bewaffnete Bürger-Komitees treten verstärkt auf und kontrollieren die Viertel. Für viele aber bedeutet das keineswegs mehr Sicherheit. Denn die Selbstschutzgruppen treten immer auch als Vertreter ihrer politischen Gruppe auf. Wird eine solche Bürgerwehr von Mursi-Anhängern dominiert, dann richtet sich der Zorn der Bewohner oft ungehindert gegen ihre christlichen Nachbarn. Häuser von koptischen Familien werden mit einem schwarzen X markiert. Die Insassen sind somit quasi als Freiwild für den islamistischen Mob freigegeben. Die Internationale Gesellschaft für Menschenrechte in Frankfurt spricht von einem „Tabubruch“ der Islamisten. Der Zorn über den Machtverlust entlade sich nun an den vermeintlichen Vertretern des christlichen Auslands.

Doch auch die Gegner Mursis und seiner Muslimbruderschaft schrecken vor Gewalt nicht zurück. Schon am Samstag in Kairo hatten sie an mehreren islamistischen Demonstranten regelrecht Lynchjustiz verübt.

Anarchie am Sinai

Völlig in Gesetzlosigkeit und Anarchie droht die Halbinsel Sinai zu versinken. Die dortigen islamistischen Beduinen, die der Zentralgewalt in Kairo immer feindlich gegenüberstanden, beherrschen seit der Revolution weite Teile der Wüstenregion immer mehr nach ihren eigenen Gesetzen.

Menschenhandel, Geiselnahmen und Verschleppungen sind tägliche Praxis. Für die ägyptischen Sicherheitskräfte eine inzwischen tödlich gefährliche Region, wie ein Zwischenfall von Sonntag Nacht zeigt. Zwei Polizeibusse wurden unweit der Stadt Rafah im Norden des Sinai an der Grenze zu Israel von Bewaffneten überfallen. Die 25 Polizei-Rekruten, die gerade vom Urlaub heimkehrten, wurden aus dem Bus gezerrt, gezwungen, sich auf den Boden zu legen, und kaltblütig hingerichtet.

In Brüssel wird beraten, in Washington erwogen, in Riad lacht man sich ins Fäustchen. Und all das, während in Kairo der Machtkampf zwischen Militärs und Muslimbrüdern weiterkocht.

Am Montag trafen sich die Botschafter der 28 EU-Staaten in Brüssel zu Beratungen über die Krise. Am Mittwoch werden die EU-Außenminister zu einem Sondergipfel zusammenkommen. Einige EU-Staaten haben bereits Finanzhilfen eingefroren. Auch ein Stopp von Rüstungslieferungen wird erwogen.

Auf der anderen Seite des Atlantik werden derweil ebenso Stimmen laut, die USA sollten ihre Wirtschafts- und Militärhilfe für Ägypten aussetzen – vor allem von republikanischer Seite; gepaart mit Kritik an der Tatenlosigkeit der US-Regierung. Die hatte zunächst lediglich ein gemeinsames Militärmanöver mit der ägyptischen Armee abgesagt.

Laut Günter Meyer von der Universität Mainz sitzen die USA „zwischen den Stühlen“ in Sachen Ägypten: „Die USA haben sich diskreditiert aus der Sicht der Militärs“, so der Nahost-Experte. Zugleich würden sich aber auch die Muslimbrüder von den USA verraten fühlen. Mit einer Streichung von Finanzhilfen vor allem für die Armee würden sich die USA jedoch vor allem selbst schaden, sagt Meyer. Denn ein großer Teil dieser Gelder würde in Form von Rüstungsgeschäften ohnehin wieder in die USA zurückfließen. Eine Streichung wäre daher für die US-Rüstungsindustrie ein Desaster.

Aber in der Debatte um die Militärhilfe spielen auch andere Kalkulationen mit: Mit einer Streichung würde man Saudi-Arabien das Feld überlassen. Sollten die USA, so die genüsslich ausgelegte Ankündigung aus Riad, die Militärhilfen streichen, so werde man gerne in gleicher Höhe einspringen.

Saudi-Arabien hat sich in der ägyptischen Krise eindeutig positioniert: Aufseiten der Militärs. Und das vor allem aus einem Grund: Pragmatismus. „Die Saudis haben von Anfang an – im Zuge der Krise in Tunesien sowie Libyen und auch beim Sturz Mubaraks – die Position vertreten, dass diese Regime nicht gestürzt werden dürfen“, so Günter Meyer. Dahinter würden vor allem Ängste vor einem Aufkeimen innerer Revolten stehen. Daher auch die erst unlängst formulierte Warnung des saudischen Außenministers vor noch mehr Druck auf die ägyptische Armee: „Wir erreichen nichts durch Drohungen.“

Meyer ortet eine tiefe Spaltung der arabischen Welt in dieser Krise: in ein Lager, das hinter den Muslimbrüdern steht, und eines, das das Vorgehen der Militärs unterstützt. Eben solche wie Saudi-Arabien, Jordanien, Kuwait oder die Vereinigten Arabischen Emirate. Katar hat sich dagegen hinter die Muslimbrüder gestellt. Und eben diese Spaltung ist auch der Grund dafür, dass sich die an sich schon nicht durch große Wortgewalt auszeichnende Arabische Liga bisher zu Ägypten ausschwieg.

Fünf Tage dauerte das blutige Kräftemessen zwischen Übergangsregierung und Islamisten in Ägypten schon an. Und beide Seiten schienen nicht daran interessiert, die Lage zu deeskalieren. Am Samstag hatte Übergangspremier Hazem al-Beblawi angedroht, die Muslimbruderschaft wieder auflösen zu wollen. Das Militär erklärte erneut, „sich nicht in die Knie zwingen“ lassen zu wollen. Die Islamisten bekräftigten ihrerseits die Absicht, nicht zu ruhen, bis ihr Präsident Mohammed Mursi wieder im Amt ist. Dieser Kampf hat seit vergangenem Mittwoch mehr als 750 Menschenleben gekostet. Die Schuld will keiner tragen.

ElBaradei in Wien

Mit Panzern will Militär Ruhe erzwingen
epa03824558 (FILE) A file picture dated 06 May 2011 shows Egyptian Vice President Mohamed ElBaradei before delivering a speach at the 'Estoril Conferences - Global Challenges Local Answers', in Estoril, Portugal, 06 May 2011. According to reports, ElBaradei resigned on 14 August 2013 as interim vice president. EPA/JOSE SENA GOULAO *** Local Caption *** 02720617
Stimmen der Vernunft, die zu vermitteln versuchten, wurden in Kairo nicht mehr gehört. Mohammed ElBaradei, der bis zum Gewaltexzess vergangene Woche das Amt des Vizepräsidenten innehatte, verließ Ägypten am Sonntag in Richtung Österreich. Am Nachmittag kam der Friedensnobelpreisträger in Wien-Schwechat an, ließ sich allerdings an den Dutzenden Journalisten vorbeischleusen, ohne einen Kommentar über den Grund seiner Reise anzugeben. Der langjährige Chef der in Wien beheimateten UN-Atombehörde hat im ersten Wiener Gemeindebezirk immer noch eine Wohnung. Sein politisches Amt hatte ElBaradei aufgegeben mit der Begründung, für „keinen Tropfen Blut“ verantwortlich sein zu wollen. Der Liberale galt als einer der stärksten Kritiker Mursis, doch den Gewaltausbruch gegen dessen Anhänger wollte er nicht tatenlos mitansehen. Wie ein weiterer Vermittlungsversuch in Ägypten nun aussehen könnte, steht in den Sternen. Nach der erfolglosen Suche nach einem Ausweg will die EU ihre Beziehungen zu Kairo überprüfen. Österreichs Außenminister Michael Spindelegger hatte im KURIER auch gefordert, die EU-Gelder zu stoppen – eine Drohung, die die ägyptische Regierung zurückweist.

Klima der Angst

Im Krisenland selbst wird die Sorge vor einem Bürgerkrieg immer größer. Selbst die Muslimbrüder sagten am Sonntag geplante Kundgebungen in der Hauptstadt ab, weil sie Übergriffe fürchteten. Zuletzt kam es zu regelrechten Akten der Lynchjustiz. In der Nacht gilt in weiten Teilen des Landes eine Ausgangssperre, die Polizei ist angewiesen, auf jeden zu schießen, der öffentliche Gebäude verwüstet. Nichtsdestotrotz zogen am Wochenende Plündererbanden durch Ägypten, die sich an den pharaonischen Schätzen in Museen bereicherten und Schulen stürmten. Auch die koptischen Christen fühlen sich als Zielscheibe. Oftmals suchen sie Schutz vor wütenden Mursi-Anhängern bei der Armee. Die Polizei greift mit aller Härte durch. Gegen 250 Anhänger der Bruderschaft sind Ermittlungen wegen Mordes und Terrorismus eingeleitet worden.

Mursis Partei soll ausgeblutet werden.Der Konflikt wurde am Sonntag weiter angefacht durch Spekulationen, Mursis Wahlsieg im Juni 2012 sei getürkt gewesen. Bei der Stichwahl habe Ahmed Shafik, ein Mann aus den Reihen Mubaraks, in Wahrheit gewonnen, schrieb die Zeitung Israel Hayom. Ausgerechnet die nun verfeindeten Militärs sollen Mursi zum Amt verholfen haben. Im Fall eines Siegs Shafiks wurden Unruhen der Islamisten befürchtet. Damals sei die Armee noch überzeugt gewesen, mit Mursi kooperieren zu können.

Kommentare