Warum eine junge Frau mit einer schweren Körperbehinderung ihre vielversprechende Filmkarriere auf Eis gelegt hat, um behinderten Kindern aus der Ukraine zu helfen
17.04.22, 05:00
Diese Geschichte könnte so beginnen: Léopoldine Huyghues Despointes ist 31 Jahre alt und ähnelt der Schauspielerin Marion Cotillard, was kein Nachteil ist, wenn man selbst Filme dreht.
Man könnte die Geschichte aber auch so anfangen: Léopoldine Huyghues Despointes, eine junge Frau mit der genetischen Störung Osteogenesis imperfecta, auch Glasknochen genannt, hat vor wenigen Tagen vor der OSZE (Organisation für Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa) eine Rede darüber gehalten, wie sie behinderten Kindern in der Ukraine hilft.
Etwa einem 17-Jährigen im Rollstuhl, dessen Behindertenheim bombardiert wurde. Er konnte nicht fliehen, lag regungslos auf dem Boden, bis das Bombardement vorüber war. Er ist nun in Sicherheit. Wo genau, sagt sie nicht, um ihre Mission nicht zu gefährden. Nur so viel: Polen sei ein Land mit bemerkenswerter Hilfsbereitschaft.
Von Léopoldine Despointes gibt es ziemlich viele Fotos auf dem roten Teppich. Sie legte als Frau im Rollstuhl glamouröse Auftritte beim Filmfestival Cannes hin und sitzt ebendort in der Jury der Filmwoche Cinéma Positiv. Ihre Filme wurde bei renommierten Festivals wie Sundance und Tribeca gezeigt und räumten Preise ab. Sie kämpft für die Sichtbarkeit von Schauspielern mit Körperbehinderungen. Noch Mitte Februar war die studierte Ökonomin drauf und dran, einen neuen Film zu planen. Der Krieg warf ihre Pläne um, sie wusste, dass es ab nun andere Prioritäten für sie gab. Nicht mehr Produzenten und Regisseurinnen, sondern Minister und Politikerinnen trifft sie jetzt zum Mittagessen.
„Warte“, sagt die junge Frau auf die Bitte nach Erläuterungen zu dieser erstaunlichen Geschichte. Sie schaut einen eindringlich an, legt einem die Hand auf den Oberarm und sagt: „Was ich hier mache, tu ich, weil ich es kann und weil ich es muss. Ich kann es, weil ich privilegiert aufgewachsen bin und ich muss es, weil dieser Krieg auch ein Krieg gegen Kinder ist. Gegen behinderte Kinder und ich weiß, wie es ist, behindert zu sein.“
Egal, wo man zu erzählen beginnt: Es steckt sehr, sehr viel Leben in dieser Frau. Konzentriert und durchsetzungsfähig wirkt sie in dieser knappen Stunde Interviewzeit, die wir vor ihrem nächsten Termin haben. Ein kurzes Treffen in einem Wiener Hotel, zwischen atemlosen Ankommen und dem nächsten Aufbruch. Gerade kommt die junge Frau von einer Rettungsaktion aus der Ukraine. Sie arbeitet an der Seite von Mykola Kuleba, bis vor Kurzem Kinderrechtsbeauftragter des ukrainischen Präsidenten. Der vierfache Vater koordiniert heute Hilfsorganisationen in der Ukraine, um Kinder aus Kampfgebieten in Sicherheit zu bringen. Mehr als 10.000 Kinder, insbesondere Waisen und Kinder mit Behinderung, konnten Kuleba und seine Mitstreiter in der NGO Save Ukraine bisher evakuieren. Mit dabei als Expertin für Behindertenrechte: Léopoldine Despointes. Doch mehr, viel mehr müsse getan werden, um zu helfen, sagt sie. Ein großes Problem, auch im Krieg, sei der Menschenhandel. Ja, mit behinderten Kindern werde Menschenhandel betrieben, von sexuellem Missbrauch ganz zu schweigen. „Die Situation ist eine Katastrophe. Ich hatte keine andere Wahl, als mich hier zu engagieren.“
Keine Vorbilder
Geboren in Paris, wächst Léopoldine in einem multikulturellen, kulturaffinen Umfeld in Frankreich und den USA auf. Die ältere Schwester, die ebenfalls Glasknochen hat, wird Künstlerin. Léopoldine will schon als Kind auf die Bühne, die für sie noch unerreichbarer als für gesunde Menschen scheint. Sie studiert schließlich Wirtschaft und Schauspiel im Nebenfach, dreht mit 23 ihren ersten Film, „Atlantic Avenue“, den sie produziert und in dem sie die Hauptrolle spielt.
Léopoldine Huyghues Despointes sagt, dass ihr all das gelänge, weil ihre Familie sie immer unterstützt und ihr viel zugetraut habe. Doch vor allem ist da diese Entschlossenheit. „Als ich klein war, gab es keine öffentlichen Vorbilder für Menschen wie mich. Also bin ich mein eigenes Vorbild geworden.“
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