Warum so viele Migranten jetzt Kurs auf die Kanaren und Kreta nehmen
Die spanische Inselgruppe im Atlantik und das größte griechische Eiland samt dem südlichen Vorposten Gavdos als neue Hotspots illegaler Einwanderung in die Europäische Union.
Sie ist das südlichste Eiland Europas und hat gerade einmal 100 Einwohner – die kleine griechische Insel Gavdos. Mit ihren 32 Quadratkilometern ist sie bloß so groß wie der Wiener Bezirk Liesing. Doch seit einiger Zeit ist das der Insel Kreta vorgelagerte Gavdos ein neuer Hotspot illegaler Migration.
Fast täglich landen Boote, vor allem aus Libyen und Ägypten kommend, an diesen beiden Inseln an. Eine Infrastruktur für die Aufnahme fehlt komplett. Bereits zu Jahresbeginn hatte die Bürgermeisterin von Gavdos, Lilian Stefanaki, Alarm geschlagen: Man könne die Migranten „nicht einmal mit dem Nötigsten versorgen“.
„Ich habe selbst gesehen, wie ein winziges Boot mit 50 bis 60 Personen an Bord am Tripiti-Strand angekommen ist“, sagt die in Wien lebende Christine Widmoser, die auf Gavdos Urlaub machte, zum KURIER.
Zwei Einheimische hätten den Migranten geholfen, an Land zu gelangen. „Man ließ sie sich in einer Reihe aufstellen. Sie wurden dann so schnell wie möglich zunächst auf Kreta gebracht, weil es auf Gavdos für diese Menschen gar nichts gibt – zumal auch schon quasi alle touristischen Einrichtungen zugemacht haben“, erzählt die 64-Jährige.
Eine Verfünffachung
Das UN-Flüchtlingshochkommissariat UNHCR beobachtet bereits seit Ende 2023 einen Anstieg der Migranten auf dieser Mittelmeer-Route. „Es ist ein neuer Trend“, sagt Stella Nanou, Sprecherin des UNHCR in Griechenland. Und weiter: „Früher war es eher so, dass einzelne Boote, die eigentlich auf dem Weg nach Italien waren, zufällig auf Kreta ankamen.
Inzwischen steuern viele von der libyschen Hafenstadt Tobruk aus gezielt die Inseln an.“ Laut UNHCR kamen seit Jahresbeginn mehr als 3.500 Migranten auf den beiden Inseln an. Das ist zwar noch eine überschaubare Zahl, doch im Vergleich zu 2023 fast eine Verfünffachung.
Bezüglich der Ursachen dieses „neuen Trends“ gibt es mehrere Erklärungsversuche. Im KURIER-Interview machte der griechische Migrationsminister Nikolaos Panagiotopoulos unter anderem die bewaffneten Konflikte im Nahen Osten verantwortlich.
Andere verweisen auf die politische Migrationsinitiative von Giorgia Meloni. Die italienische Regierungschefin hatte sich heuer mehrmals mit dem in Ostlibyen herrschen General Khalifa Haftar (dort liegt auch die Hafenstadt Tobruk) getroffen, um über mögliche Kooperationen im Bereich der Migration zu sprechen. Seither nehmen jedenfalls deutlich weniger Boote Kurs auf Italien...
Die meisten Migranten, die auf Kreta und Gavdos stranden, stammen aus Ägypten (57 %), gefolgt von Pakistan (15 %) und Bangladesch (13 %). Das Echo auf den beiden Inseln ist geteilt: Während die Tourismusbranche um ihr Image bangt, gelten die (billigen) Arbeitskräfte bei den Olivenbauern, die oft vergeblich Helfer für die Ernte suchen, als willkommene Verstärkung.
Die gefährlichste Route
Auch auf den Kanaren hat sich die Migrationsproblematik wieder verschärft. Bis 15. Oktober dieses Jahres trafen auf der zu Spanien gehörenden Inselgruppe im Atlantik fast 33.000 Männer, Frauen und auch Kinder ein. Zum Vergleich: Im Vorjahr gab es einen neuen Rekord von fast 40.000 Migranten, und da hielt man Mitte Oktober erst bei 23.500.
Regionalpräsident Fernando Clavijo rechnet mit 70.000 Ankömmlingen bis Jahresende. Die meisten landen nach wie vor auf El Hierro: Dort strandeten 2023 14.500 Menschen, das waren mehr als das Eiland Einwohner hat (rund 11.000).
Und dies, obwohl die Atlantikroute die gefährlichste der Welt ist. Die Gründe: Die Boote, die vor allem aus dem Senegal, Mauretanien und Gambia aus starten, sind alles andere als hochseetauglich, oft gehen Nahrungsmittel und vor allem Trinkwasser aus, und wenn der Kapitän die Inselgruppe verpasst und auf den offenen Atlantik abdriftet, gibt es keine Hoffnung mehr.
Erst jüngst wurde an einem Karibikstrand in der Dominikanischen Republik ein Migrantenboot aus Mauretanien entdeckt – mit 14 Skeletten an Bord. Die spanische Flüchtlingsorganisation Caminando Fronteras schätzt, dass im Vorjahr mehr als 6.000 Menschen beim Versuch, von Westafrika auf die Kanaren überzusetzen, ums Leben gekommen sind.
Von diesen Entwicklungen alarmiert reiste der spanische Premier Pedro Sanchez im Sommer auf die Kanaren, wo er 50 Millionen Euro als Soforthilfe zusagte.
Danach begab er sich nach Mauretanien, Gambia und in den Senegal, um von den jeweiligen Regierungen mehr Anstrengungen gegen die illegale Migration einzufordern. Im Gegenzug soll es finanzielle Unterstützung geben. Sozusagen das marokkanische Modell, das derart aufgesetzt worden war.
Soziale Spannungen
Aufgrund dieser Maßnahme und strengeren Überwachungen der traditionellen Routen über das Mittelmeer, so Experten, würden die Menschen vermehrt die Kanaren-Variante wählen, um auf EU-Territorium zu gelangen. Viele stammen aus Schwarzafrika, aber auch aus der destabilisierten Sahelzone, wo militante Islamisten ihr Unwesen treiben und Generäle geputscht haben.
Laut der EU-Grenzschutz-Agentur Frontex sollen sich alleine in Mauretanien 150.000 Flüchtlinge aus Mali befinden und darauf warten, auf die Kanaren übersetzen zu können.
Die Folgen: Die sozialen Spannungen auf den sieben kanarischen Inseln steigen massiv. Zumal Armut und Arbeitslosigkeit zum Alltag der Einwohner gehören: Laut Statistik lebt jeder Dritte an oder unter der Armutsgrenze. Immer öfter entladen sich Frust und Wut der Kanaren über die Gesamtsituationen in Protesten.
Kommentare