Migranten am Rio Grande: „Die wollen einfach ein besseres Leben“
Wenn Chuck Champion morgens sein altes BMW-Motorrad startklar macht, um in die Innenstadt von Del Rio zu fahren, weiß der pensionierte Mechaniker der Loughlin-Airforce-Basis in Texas schon an der ersten Kurve, wie viele Flüchtlinge in der Nacht über den hier oft nur hüfthoch Wasser führenden Grenzfluss gekommen sind. „Die Leute lassen ihre nassen Sachen am Wegesrand liegen“, sagt der 62-Jährige auf seinem Grundstück direkt am Rio Grande, „dann kommt die Grenzpolizei und transportiert sie ab.“
Seit Joe Biden im Weißen Haus regiert, sagt Champion, nehme die feuchte Altkleider-Sammlung „ziemliche Ausmaße an“. Champion betont, dass von den Menschen, die da erschöpft und verzweifelt aus den Armutszonen Lateinamerikas am Ufer ganz in der Nähe seines Gartens anlanden, keine Gefahr ausgehe. „Die wollen einfach nur ein besseres Leben.“ Aber die Zahlen „sind nicht mehr zu verkraften“.
450.000 in zwei Monaten
Laut Troy Miller, Chef der „Customs and Border Protection“ (CBP), kamen von Februar bis Ende April knapp 450.000 Menschen illegal über die 3.150 km lange Süd-Grenze zwischen den USA und Mexiko. Das Heimatschutzministerium spricht von den höchsten Zahlen seit 20 Jahren. „Sorry, daran sind Bidens Botschaften schuld“, sagt Chuck Champion. Donald Trump habe das „Tor nach Amerika dicht gemacht“, jetzt stehe es wieder „weit offen“.
Die Konsequenzen tragen Leute wie Tiffany Brown. Die Frau managt in Del Rio, einer 36.000-Einwohner-Stadt, die einzige Freiwilligen-Organisation zur Erstbetreuung von Asylsuchenden, denen gestattet wurde, bis zum Gerichtstermin im Land zu bleiben. Vor allem Paare mit Kindern sind zu versorgen. Francois und Michelle, sie hochschwanger, haben es aus Haiti über Südamerika binnen drei Monaten über die Grenze geschafft. „Wir sind glücklich, aber körperlich und psychisch total am Ende“, sagt der 28-Jährige.
Im Februar lud die Grenzschutzbehörde 464 Menschen am Chihuahua-Nachbarschaftszentrum von Del Rio ab, damit sie sich mit Second-Hand-Kleidung und Wasser eindecken konnten. Dann ging es meist noch am selben Tag per Greyhound-Bus auf die Reise zu Verwandten oder Sponsoren zwischen Los Angeles und New York.
Solo-Erwachsenen, im Schleuser-Jargon „Llegadas“ genannt, werden hingegen rigoros nach Mexiko abgeschoben – falls sie nicht rechtzeitig untertauchen. Mehr als 200.000 Mal war das von März bis April der Fall. Anders sieht es bei Familien aus. Ex-Präsident Donald Trump trennte zur Abschreckung Eltern und Kinder. Die Erwachsenen wurden deportiert. Die Kinder kamen in dubiose Übergangseinrichtungen. So entstanden die berüchtigten „Käfigbilder“.
Nachfolger Biden lässt Familien oder Elternteile mit einem Kind, die „Entregas“, nach Kurz-Prüfung ins Land. Im April kamen so rund 67.000. Auch unbegleitete Kinder und Jugendliche, mehr als 36.000 zwischen März und April, durften bleiben. Das hat sich herumgesprochen im verarmten und von Gewalt und Korruption verseuchten Hinterhof der USA. Die Sogwirkung ist schwer zu unterbrechen.
„Nicht mehr lange gut“
Pastor Mike Smith, Chef des 1880 zur Förderung hispanisch-stämmiger Schüler gegründeten Holding Instituts, sitzt auf der Couch seiner Einrichtung in Laredo und schüttelt den Kopf. „Im Jänner hatten wir zehn Leute pro Woche, um die wir uns kümmern mussten. Seit Februar sind es 200 bis 250 – pro Tag. Das geht nicht mehr lange gut.“
Das Holding Institut fungiert auch als humanitäre Drehscheibe. Bedingt durch Corona ist aber alles ins Rutschen geraten. Smith lässt auf eigene Kosten testen und impfen. „Fast zehn Prozent der Ankömmlinge sind infiziert. Wir mussten ein Warenlager gegenüber anmieten, um die Leute hier in Quarantäne zu bekommen.“ Unterstützung aus Washington, der Bundesstaatsregierung in Austin oder der Stadt? Smith verzieht den Mund. „Ohne Spenden und Ehrenamtliche wären wir aufgeschmissen.“
Nelson und Isis Rodriguez (Nachname geändert) sitzen indes im Holding-Garten unter einer Magnolie im Schatten und warten auf Handy-Nachrichten. Das Paar aus der Nähe von San Pedro Sula in Honduras war mit Sohn Abdil (5) fast drei Monate unterwegs. Ein Freund, der in West Palm Beach/Florida lebt, hat ihnen das Geld für die „Coyotes“, die Schlepper, vorgestreckt. Die Summe will Nelson nicht sagen. Später flüstert seine Frau: „Wir werden lange arbeiten müssen, um es zurückzahlen zu können.“ 3.000 Dollar pro Person sind keine Seltenheit. Geflohen ist die Familie, weil „Honduras kaputt, korrupt und lebensgefährlich ist“, sagt Nelson, „die beiden Hurrikane im letzten Herbst haben uns den Rest gegeben.“
Als Beleg zeigt er ein Foto von sich vor den Überresten seines Hauses, das Wasser bis zum Schlüsselbein. Isis steigen Tränen in die Augen. „Wir haben keinen Cent in der Tasche, aber wir sind hier, einigermaßen gesund und unversehrt. Wir haben viel Gewalt und Leid gesehen auf unserer Reise. Wir hatten Glück.“
„Heftpflaster“
Für Joe Biden ist die in Jahrzehnten gewachsene Lage an der Südgrenze politisch brenzlig. Die Republikaner sehen die USA „überrannt“. Sie werfen ihm „unverantwortliche Offene-Grenzen-Politik“ vor. Das Kalkül sind die Zwischenwahlen zum Kongress 2022. Die Republikaner rühren die Nationalismus-Trommel. Anti-Einwanderungs-Ressentiments funktionieren. Noch mehr plagt Biden, dass die eigenen Leute auf die Barrikaden steigen.
Henry Cuellar, seit 2005 Kongress-Abgeordneter in Washington für Laredo und Umgebung, gehört zu den schärfsten Kritikern: „Wenn Biden sagt, die Lage ist unter Kontrolle“, dann sei das „nicht wahr“. Bruno „Ralphy“ Lozano, der demokratische Bürgermeister von Del Rio, ging neulich sogar beim rechtslastigen Sender Fox News ans Mikrofon, um dem Präsidenten Wirklichkeitsverdrängung anzulasten. Nicht die Küche, die ganze Nachbarschaft stehe unter Wasser, sagte der 35-Jährige, aber das Weiße Haus hantiere weiter mit „Heftpflastern“.
Kommentare