„Europa ist eine Frau“, huldigte der frühere EU-Ratspräsident Donald Tusk vergangenen Juli Ursula von der Leyen, als sie zur Chefin der EU-Kommission gewählt wurde. Ab Mittwoch wird es heißen: Europa ist zwei Frauen. Nämlich mit der Kommissionspräsidentin und Kanzlerin Angela Merkel. Denn am 1. Juli übernimmt Deutschland für sechs Monate die EU-Präsidentschaft. Eine mächtige weibliche Doppelspitze aus Deutschland hält dann das Schicksal einer EU in den Händen. Einer Europäischen Union, die durch die schwerste Wirtschaftskrise ihrer Geschichte geht.
Nach den fatalen Schneisen, die die Corona-Pandemie geschlagen hat, geht es um nichts weniger, als Europa zu retten. Das Tandem Merkel und von der Leyen – schaffen sie das?
„Dass Deutschland gerade jetzt den Vorsitz übernimmt, ist eine ideale Konstellation“, glaubt EU-Experte Stefan Lehne (Carnegie Europe). Wer, wenn nicht Deutschland, mit dem politischen und ökonomischen Gewicht des allergrößten Nettozahlers in der EU, sollte die kommenden Aufgaben stemmen?
Gleiche Werte, gleiche Ziele
Und dazu kommt die bisher nie da gewesene Situation: Eine deutsche Kanzlerin und eine deutsche Kommissionschefin, die einander seit Jahrzehnten kennen, beide Christdemokratinnen und ähnlichen Alters (65 und 61) peilen das gleiche Ziel an: Europa aus der Krise holen. Da hilft es, wenn zwei Handlungsmächtige mehr Informationen austauschen, als es sonst zwischen Regierungschef und Kommissionsspitze üblich ist. Merkel, so heißt es, lässt sich gern von ihrer ehemaligen Ministerin informieren, welcher Premier in Europa gerade wie tickt. Täglich werden SMS geschickt. „Die Vertrautheit der beiden ist sicher ein Vorteil“, vermutet Lehne. „Sie können sich gut miteinander abstimmen und harmonisch agieren.“
Keine engen Freundinnen
Enge Freundinnen aber waren sie nie. Merkel durchkreuzte einst den Traum von der Leyens, deutsche Bundespräsidentin zu werden. Eine herbe Zurückweisung für die ehrgeizige Ministerin. Doch das politische Vertrauensband zwischen den beiden Frauen hielt.
Normalerweise ist die rotierende EU-Ratspräsidentschaft ein Verwaltungs- und Verhandlungsmarathon. Das Vorsitzland übernimmt eine Vermittlerrolle, versucht als eine Art Brückenbauer die Gesetzesverfahren voranzubringen – und bestenfalls noch einige eigene Impulse zu setzen. Der Kampf gegen den Klimawandel wäre demnach auf dem deutschen Vorsitz-Programm gestanden, eine europäische Digitalsteuer ebenso wie die Stärkung Europas gegenüber den Riesen USA und China.
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Stuttgart-Krawalle
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Leadership ist gefragt
Dieses Mal ist alles anders. Corona warf alle Pläne über den Haufen, Deutschlands Vorsitzprogramm musste völlig neu geschrieben werden. Kreative Kraftakte, sonst so gar nicht der Stil Merkels, sind gefragt:
„Der Wiederaufbau nach Corona, der europäische Haushalt, ein Abkommen mit Großbritannien – all das muss in den kommenden Monaten erledigt werden. Dafür wird viel Leadership gebraucht“, sagt Thu Nguyen, Rechtswissenschaftlerin am Jacques Delors Centre in Berlin.
Merkels europa-politisches Erbe
Die erste und allerwichtigste Aufgabe, die nun vor Merkel und von der Leyen liegt: 750 Milliarden Euro müssen zur Rettung der europäischen Wirtschaft lockergemacht werden – zusammen mit dem noch zu verhandelnden EU-Haushalt wären es fast 2 Billionen Euro. „Wenn Merkel das gelingt, wäre es ihr größtes europa-politisches Erbe“, glaubt EU-Expertin Nguyen.
Dabei hatte bis vor Kurzem noch alles ganz anders ausgesehen. Gleich auf Merkels erste Ratspräsidentschaft 2007 folgte die Finanzkrise. Das schwer ins Trudeln gekommene Griechenland erhielt mit dem grünen Licht der Kanzlerin zwar Rettungspakete, doch nur unter harten Auflagen, Kontrollen und extremen Sparvorgaben.
Wiederaufbau
Die Corona-Krise wird
der EU heuer einen Wirtschaftsrückgang von 7,5 Prozent bescheren. Die EU will mit 750 Milliarden Euro gegensteuern. Ein Kompromiss muss gefunden werden, wie viel als Zuschuss und wie viel als Kredit vergeben wird
EU-Budget
Noch im Juli möchte Merkel ein Ergebnis sehen: Welcher Staat zahlt wie viel in den 1.100 Milliarden schweren EU-Haushalt ein?
Abkommen mit London
Die Briten sind seit Februar raus aus der EU. Doch die EU will dringend ein Kooperationsabkommen mit London. Es müsste bis Ende Oktober auf dem Tisch liegen.
Green Deal
Bis 2050 soll Europa klimaneutral sein, also nicht mehr Treibhausgase ausstoßen als absorbiert werden. Dafür muss Europas Wirtschaft radikal umgebaut werden
Digitalisierung
Weichen werden gestellt für Modernisierung und Technologieschübe für alle Lebens- und Arbeitsbereiche
An Merkel abgeprallt
Im Süden Europas wusste man seither: Mit Merkel und dem reichen Deutschland gibt es in der EU keine Schuldenschnitte, keine gemeinsame Verschuldung, keine Transferunion – sprich: keinen Millimeter Nachgeben, wenn es ums Geld geht.
Da mochte Frankreichs Präsident Emmanuel Macron noch so sehr fordern: Die Währungsunion müsse endlich eine echte werden, in der die reicheren Staaten die Schwierigkeiten der ärmeren ausbalancieren.
„Damit ist Macron an Deutschland bisher immer abgeprallt. Und das war ein riesiges Problem, dass der deutsch-französische Motor nicht in Gang gekommen ist“, schildert EU-Experte Stefan Lehne.
Doch dann kam Corona. Und Merkel vollzog eine spektakuläre Kehrtwende. Zusammen mit Macron schlug sie vor, dass die EU erstmals 500 Milliarden Euro gemeinsame Schulden aufnimmt, die wiederum als nicht rückzahlbare Zuschüsse an die von Corona besonders hart betroffenen Länder vergeben werden sollen.
„Das war ein ganz, ganz großer Schritt. Dabei ist Merkel über ihren eigenen Schatten gesprungen“, sagt Lehne. Warum? Sie habe wohl gesehen, dass andernfalls die Kluft zwischen Nord und Süd unüberbrückbar geworden wäre. Ursula von der Leyen packte auf die halbe Billion noch einmal 250 Milliarden Euro als Kredite drauf und führte alles mit dem nächsten EU-Haushalt zusammen.
Nun erwartet die Kommissionschefin und Merkel das Kunststück, einen Kompromiss zu schmieden: Zwischen den „sparsamen vier“ Staaten, darunter Österreich, die kein Geld verschenken wollen, sondern auf Kredite beharren. Und den größten Empfängerstaaten, darunter Italien, Polen und Spanien, die sich keine harten Bedingungen auferlegen lassen wollen.
Die Erwartungen an das deutsche Führungsduo sind hoch. Man könnte es allerdings auch anders formulieren. Stefan Lehne: „Wenn dass jetzt nicht klappt, unter dem deutschen Vorsitz, dann haben wir ein Problem.“
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