US-Botschaft könnte Spähangriff gesteuert haben
Der mutmaßliche Lauschangriff der USA auf das Mobiltelefon der deutschen Bundeskanzlerin Angela Merkel ist einem Zeitungsbericht zufolge möglicherweise von der US-Botschaft in Berlin heraus gesteuert worden. Die Abhöraktion solle von einem Lauschposten namens Special Collection Service (SCS) betrieben worden sein, berichtete die Süddeutsche Zeitung unter Berufung auf Unterlagen des früheren US-Geheimdienstmitarbeiters Edward Snowden. Dem Bericht zufolge soll Merkels Handynummer in einer Liste des US-Geheimdiensts NSA stehen. Snowden solle die Unterlagen im vergangenen Jahr heimlich angezapft haben. Damals soll demnach auf der Liste vermerkt worden sein, dass eine Abhöraktion gegen Merkel laufe. Als Operationsbasis solle in dem Papier verschlüsselt die US-Botschaft in Berlin aufgeführt worden sein.
"Ausspähen unter Freunden geht gar nicht"
Angela Merkel hat vor dem EU-Gipfel in Brüssel betont, dass sie mit den USA über die NSA-Spionage reden will. Es müsse geklärt werden, welche Datenschutzabkommen und welche Transparenz gelte. "Wir sind Verbündete und solch ein Bündnis kann nur auf Vertrauen aufgebaut sein. Ausspähen unter Freunden geht gar nicht", sagte Merkel. Grund sind Informationen, wonach das private Mobiltelefon der Bundeskanzlerin durch amerikanische Geheimdienste überwacht werde. Merkel soll mit US-Präsident Barack Obama telefoniert und sich bei ihm beschwert haben. Auch die Bundesanwaltschaft ist inzwischen mit dem Fall befasst.
Herbstgipfel der EU
EU-Parlamentschef Martin Schulz fordert als Reaktion auf den mutmaßlichen Lauschangriff das Aussetzen der Freihandelsgespräche mit den USA. "Ich glaube schon, dass wir jetzt mal unterbrechen müssen", sagte der Österreicher am Donnerstag in Brüssel. Eigentlich wollten die Staats- und Regierungschefs beim EU-Herbstgipfel über Internetwirtschaft, die Bankenunion und das Flüchtlingsdrama im Mittelmeer sprechen. Nun drängt sich Merkels Handy-Affäre in den Vordergrund. Merkel und der französische Staatschef Francois Hollande sind am Rande des Gipfels zu einem "kurzen Meinungsaustausch" darüber zusammengekommen.
Obama weist Vorwurf zurück
US-Präsident Barack Obama weist die Späh-Vorwürfe zurück. Die Vereinigten Staaten würden ihre Zusammenarbeit mit Deutschland "sehr schätzen", sagte Obamas Sprecher Jay Carney am Mittwoch. Außerdem wolle man die Zusammenarbeit zwischen den Geheimdiensten weiter intensivieren, so Carney (siehe Stellungnahme im Wortlaut weiter unten).
Scharf auch die Reaktion von Außenminister Guido Westerwelle: Am Donnerstag wird der US-Botschafter, John B. Emerson, ins Auswärtige Amt bestellt - zu einem persönlichen Gespräch auf höchster Ebene. Dabei soll "das Unverständnis und die Empörung der deutschen Seite über die berichteten Vorgänge der Abhörung unter engsten Partnern deutlich gemacht werden", wie Spiegel Online meldete.
Unklares Dementi
Auslöser der ungewöhnlich scharfen Reaktion der Bundesregierung ist eine aktuelle Spiegel-Recherche. Eine Sprecherin des US-Sicherheitsrats erklärte zu den Vorwürfen gegenüber den Nachrichtenmagazin: "Der Präsident hat der Kanzlerin versichert, dass die Vereinigten Staaten ihre Kommunikation nicht überwachen und auch nicht überwachen werden." Ob das auch für die Vergangenheit gelte, ließ man allerdings offen.
Faymanns Gespräche werden abgeschirmt
Keine Sorgen muss sich Bundeskanzler Werner Faymann machen. Die Telefone des Kanzler würden abgeschirmt, hieß es am Donnerstag aus dem Bundeskanzleramt. Es gebe keine Anhaltspunkte oder Verdachtsmomente, "dass etwas passiert ist". Auch die Telefone von EU-Kommissionspräsident Jose Manuel Barroso sind laut seinem Sprecher sicher. Es gebe sehr hohe Sicherheitsstandards bei der Qualität der Leitungen, sagte ein Kommissionssprecher in Brüssel. Damit sollten solche Situationen vermieden werden. "Es gibt keinen Zweifel, diese Leitungen sind voll geschützt", so der Sprecher.
Faymann erklärte am Freitag nach dem ersten EU-Gipfeltag, die Staats- und Regierungschefs hätten die Initiative von Deutschland und Frankreich unterstützt, mit den USA zu einer gemeinsamen Vorgangsweise zu kommen. Diese bedeute, dass "wir nicht akzeptieren können, dass Massen von unkontrollierten Daten oder zumindest von bisher nicht aufgeklärten Daten" verwendet worden seien. Die EU setze sich dafür ein, die Vorwürfe bis Dezember zu klären.
Die bisher deutlichste Reaktion aus Europa auf die Spionage-Affäre erfolgte am Mittwoch: Mit knapper Mehrheit (280 zu 254 Stimmen) stimmte das EU-Parlament für die Aussetzung des sogenannten Swift-Abkommens, das den Austausch von Bankdaten mit den USA regelt.
Wenn Politiker sensible Informationen austauschen, setzen sie meist auf sogenannte Cryptophones. Diese Geräte erlauben es, Gespräche, SMS oder eMails verschlüsselt zu übermitteln. Das funktioniert aber nur, wenn auch das Gegenüber ein kompatibles Cryptophone verwendet. Ob es sich auch beim mutmaßlich abgehörten Handy von Angela Merkel um ein Sicherheits-Handy handelt, ist derzeit nicht bekannt. Selbst deutsche Cryptophone-Hersteller wissen nämlich nicht, ob die Kanzlerin eines ihrer Geräte verwendet. „Wir haben eine vierstellige Zahl an Geräten an Behörden und Ministerien verkauft. Aus Sicherheitsgründen erfahren wir aber nicht, wer diese verwendet. Die Kanzlerin hat zudem mehrere Handys“, sagt Peter Rost vom Cryptophone-Hersteller Rohde & Schwarz dem KURIER. Vermutet wird, dass derzeit ein Produkt der Firma Secusmart im Einsatz ist.
Viele Fragen offen
Auch Sicherheitsexperten rätseln, welches der Telefone der Kanzlerin betroffen war und wie die Angriffe abgelaufen sind. Da der Vorfall in Zusammenhang mit den Enthüllungen des Aufdeckers Edward Snowden bekannt wurde, ist anzunehmen, dass die Bespitzelung der Kanzlerin schon vor einiger Zeit passierte. Die Welt berichtet, dass die Nummer eines nicht mehr verwendeten Secusmart-Cryptophones der Kanzlerin in NSA-Dokumenten auftaucht. Das schließt freilich nicht aus, dass andere Handys belauscht wurden. Sollte es sich bei einem abgehörten Handy um ein ungesichertes Privat-Smartphone der Kanzlerin gehandelt haben, wäre das Mithören für einen US-Geheimdienst eine leichte Übung. Dass Politiker ihre privaten Geräte verwenden, kommt durchaus vor. Der deutsche Noch-Minister Philipp Rösler hat unlängst gestanden, trotz Sicherheitsbedenken privat nicht auf sein iPhone zu verzichten.
Da bei handelsüblichen Telefonen unverschlüsselt Daten übermittelt werden, ist es einfach, diese über manipulierte Funkzellen oder direkt über die Leitungen der Netzbetreiber abzusaugen. Bei Cryptophones ist das schwieriger. „Das Knacken unserer Verschlüsselung ist mit derzeitigen Mitteln praktisch unmöglich“, so Rost. Absolute Sicherheit gibt es aber nicht. Dass die NSA, die über beträchtliche technische und finanzielle Mittel verfügt, gängige Verschlüsselungen knacken kann, ist möglich. „Einfacher wäre es aber, ein Gerät mit Schadsoftware zu infizieren, die den direkten Zugriff auf das Mikrofon erlaubt“, so Rost. Welche Geräte für den Einsatz in der Politik als geeignet gelten, bestimmt das deutsche Bundesamt für Sicherheit in der Informationstechnik (BSI). Derzeit haben eine Deutsche-Telekom-Tochter und die Firma Secusmart den BSI-Segen. Trotzdem sind auch Geräte von anderen Herstellern im Einsatz. Secusmart bestätigt, ins Bundeskanzleramt geliefert zu haben: „Unsere Handys sind aber abhörsicher“, so eine Sprecherin gegenüber dem KURIER.
Nach Angela Merkel auch Werner Faymann und Heinz Fischer? Vorerst ist unklar, ob nicht auch weitere europäische Staats- und Regierungschefs, inklusive in Österreich, das Schicksal der deutschen Kanzlerin Merkel geteilt haben und vom US-Geheimdienst NSA abgehört wurden. Das Weiße Haus gab dem KURIER eine ausweichende Antwort: „Die Vereinigten Staaten verfolgen die Verbindungen von Kanzlerin Merkel nicht und werden es nicht tun. Darüber hinaus bin ich nicht in der Lage, jede einzelne angebliche Geheimdienst-Aktivität öffentlich zu kommentieren“, erklärte Caitlin Hayden, Sprecherin des Nationalen Sicherheitsrats auf Anfrage des KURIER, ob auch Kanzler Werner Faymann und Bundespräsident Heinz Fischer bespitzelt wurden.
Zwei US-Sicherheitsexperten – James Bamford und James Lewis – erklären dem KURIER, was der jüngste Abhörskandal genau bedeutet. Bamford gilt als der Experte für die NSA, hat viele Bücher über die Geheimdienstbehörde veröffentlicht. Lewis leitet das Programm für Technologie und Öffentliche Politik des Center for Strategic and International Studies (CSIS) in Washington.
KURIER: Ist es normal beim Geheimdienst, dass ein Staat Verbündete bespitzelt?
James Bamford: Das ist der normale Betrieb. Nicht normal ist, dass man dabei erwischt wird. Wir haben in der Antwort des Weißen Hauses gesehen, dass sie über die Gegenwart und die Zukunft sprechen, aber nicht über die Vergangenheit. Es ist offensichtlich, dass sie es in der Vergangenheit getan haben, und was sie im Grunde sagen, ist: Wir werden es in Zukunft nicht machen. Der größere Skandal ist aber, dass man Privatpersonen belauscht.
James Lewis: Ehrlich gesagt: Abhören gehört zu unserer Welt. Telefonleitungen in Washington werden die ganze Zeit von verschiedenen Ländern abgehört. Politische Führer werden bespitzelt – das ist normal. Wenn Merkel etwa nach Frankreich reist, darf sie nicht glauben, dass ihr Handy sicher sei. Und das weiß ich genau. Der Spiegel hat ein Interesse zu sagen, es waren nur die USA. Aus Erfahrung wissen wir aber, dass die Russen Ähnliches getan haben.
Könnte es sein, dass Österreich auch ins Visier der US-Geheimdienste gekommen ist?
James Bamford: Ja, Österreich war das Herzstück der US-Geheimdienste während des Kalten Kriegs und ein Treffpunkt für Spione aus dem Osten und dem Westen. Es gibt immer noch viel Spannung dort, so dass die USA wissen wollen, was vor sich geht. Nicht, was intern politisch in Österreich passiert. Man ist interessiert daran, was sich die Botschaften in Wien gegenseitig sagen.
James Lewis: Das wird durch die Außenpolitik eines Landes bestimmt. Es ist nicht so, dass man alle willkürlich bespitzelt. Keiner, auch die Chinesen, haben die Kapazität, alles zu bespitzeln. Man muss also auswählen. Wenn die USA an Verkäufen deutscher Firmen für das iranische Atomprogramm interessiert sind, könnte das ein Grund für Bespitzelung sein. In Österreich können das einige der internationalen Organisationen dort sein oder Botschaften.
Das Weiße Haus regierte am Mittwoch in einer schriftlichen Stellungnahme auf Berichte, nach denen das Handy der deutschen Bundeskanzlerin Angela Merkel (CDU) möglicherweise von US-Geheimdiensten überwacht wurde. Die USA dementierten - allerdings ohne über die Vergangeheit zu sprechen. Die Nachrichtenagentur dpa dokumentiert die Mitteilung von US-Regierungssprecher Jay Carney im Wortlaut:
"Präsident Obama und Bundeskanzlerin Merkel haben heute am Telefon über die Vorwürfe gesprochen, dass die National Security Agency der USA die Kommunikation der deutschen Kanzlerin abgefangen hat. Der Präsident versicherte der Kanzlerin, dass die Vereinigten Staaten die Kommunikation von Kanzlerin Merkel nicht überwachen und nicht überwachen werden.
Die Vereinigten Staaten schätzen sehr unsere enge Kooperation mit Deutschland in einer großen Bandbreite geteilter Sicherheitsherausforderungen. Wie der Präsident sagte, überprüfen die Vereinigten Staaten die Art, in der wir Geheimdienstinformationen sammeln, um sicherzustellen, dass wir angemessen die Sicherheitsbedenken unserer Bürger und Alliierten mit den Bedenken über die Privatsphäre in Einklang bringen, die alle Menschen teilen.
Beide Spitzenpolitiker vereinbarten, die Zusammenarbeit zwischen unseren Geheimdiensten weiter zu intensivieren; mit dem Ziel, die Sicherheit beider Länder und unserer Partner zu bewahren sowie die Privatsphäre unserer Bürger zu schützen."
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