Warum die russischen Motorrad-Angriffe in der Ukraine erfolgreich sind

Sie kommen in Schwärmen, oft zu zehnt, manchmal auch mehr. Nicht mit Panzern oder gepanzerten Fahrzeugen, sondern auf Motorrädern – schnell, wendig, schwer zu orten. Die russischen Streitkräfte setzen im Ukraine-Krieg zunehmend auf eine altmodisch wirkende, aber strategisch effektive Methode: Angriffe auf Motorrädern.
Was nach einem Relikt vergangener Kriege klingt, ist in Wahrheit ein zentraler Bestandteil moderner russischer Gefechtstaktik geworden. Oberst Markus Reisner, Leiter des Institutes für Offiziersausbildung an der Theresianischen Militärakademie, analysiert für den KURIER diese neu-alte Kriegsführung.
Systematische Zermürbung
Reisner beschreibt die russische Motorrad-Offensive nicht als isolierte Maßnahme, sondern als Teil eines ausgeklügelten, mehrstufigen Angriffsschemas. Zunächst erfolgt die „elektromagnetische Vorbereitungsphase“: Russische Kräfte versuchen gezielt, den ukrainischen Funkverkehr zu orten oder zu stören.
„Es geht darum, Kommunikation zu verhindern und Desorientierung zu schaffen – bevor auch nur ein Schuss fällt“, erklärt der Oberst des Generalstabsdienstes. Darauf folgt eine Phase massiver Abnützung: Gleitbomben aus großer Distanz, schwere Artillerie, Mörser und Drohnen greifen ukrainische Stellungen an – oft über Wochen. Besonders perfide: Drohnen, die sich gezielt in Trümmer stürzen oder sogar Reizgas abwerfen, um Soldaten aus ihren Deckungen zu zwingen.
Erst nach dieser systematischen Zermürbung beginnt der eigentliche Vorstoß – und hier kommen die Motorräder ins Spiel. In kleinen Gruppen, zwei bis zehn Maschinen stark, durchkämmen sie das Gelände. „Sie bilden eine Art Schleier“, sagt Reisner.
Suche nach Schwachstellen
Ziel ist nicht der direkte Angriff, sondern die Aufklärung: Wo gibt es Lücken in den ukrainischen Verteidigungslinien? Wo stehen zu wenige Soldaten? Diese Lücken entstehen, weil die Ukraine aufgrund von Personalmangel häufig auf stützpunktartige Verteidigungssysteme setzt. Die Motorräder – oft einfache, zivile Maschinen, teilweise mit Beiwagen – sind schnell, leise und hinterlassen kaum sichtbare Spuren.
„Ein Panzer wirbelt Staub auf und ist leicht zu orten – Motorräder nicht“, betont der Militärstratege. Sobald eine Schwachstelle identifiziert ist, rückt die zweite Angriffswelle vor: eine gepanzerte Kampfgruppe. Zwei bis vier Panzer, begleitet von Schützenpanzern mit Infanterie, stoßen durch die erkannte Lücke. Besonders häufig kommt dabei ein Minenräumpanzer zum Einsatz. Die Taktik nennt sich „Panzerkarussell“.

Kreisbewegung
Der Räumpanzer fährt in einer Kreisbewegung zur Einbruchstelle, die restlichen Panzer folgen ihm, setzen Truppen ab und alle versuchen in der geräumten Spur wieder zurückzufahren. Die eigentlichen Kampfpanzer übernehmen die Sicherung. „Die Motorräder sind dabei nicht nur Aufklärer, sondern auch Wegbereiter“, so Reisner. Ihre Mobilität macht sie im offenen Gelände – etwa in der Steppe südlich von Saporischschja – besonders effektiv.
„Es ist exakt das, was die Sowjets im Zweiten Weltkrieg gemacht haben. Und auch die Wehrmacht hatte mit ihren Kradschützenbataillonen ähnliche Konzepte.“ Ein exemplarisches Szenario spielte sich vor wenigen Wochen nahe Kamjanske ab, südlich von Saporischschja. Dort gelang Russland ein taktisch bedeutender Einbruch in gut befestigte ukrainische Stellungen. Laut Reisner wendeten die Angreifer genau jenes Muster an: elektromagnetische Störung, wochenlange Bombardierung, dann der Vorstoß per Motorrad – gefolgt vom gepanzerten Zugriff.

Hauptaugenmerk auf Pokrowsk
Wiewohl Kamjanske nur ein Nebenschauplatz ist: Das Hauptaugenmerk der russischen Streitkräfte liegt auf den Städten Pokrowsk und Kostjantyniwka, wo sie in den vergangenen Wochen bedeutende Fortschritte gemacht haben. In Pokrowsk droht etwa 30.000 ukrainischen Soldaten die Einkesselung. Wie kann die Ukraine auf diese Entwicklung reagieren? Sie versucht laut Reisner, die Bewegungen der Motorradtrupps durch Drohnenaufklärung zu überwachen – eine Herausforderung angesichts der schieren Anzahl der eingesetzten Fahrzeuge. „Wenn auf einmal 20 Motorräder in Bewegung sind, weißt du nicht, wo du zuerst hinschauen sollst“, sagt Reisner.
Ein weiteres Mittel: Stacheldraht. „Motorräder und Fußtruppen lassen sich damit effektiv stoppen, auch wenn Panzer darüber hinwegrollen“, erklärt er. Ukrainische Einheiten haben begonnen, sogar improvisierte Minenleger und Stacheldrahtverleger zu entwickeln, um auf die dynamische Bedrohung zu reagieren. Trotz dieser Bemühungen regt sich in ukrainischen Reihen zunehmend Kritik. Viele Soldaten fühlen sich gezwungen, in offenen Feldstellungen auszuharren – oft nur mit minimalem Schutz. „Das sorgt für Frustration“, sagt Reisner. „Manche fragen sich: Warum verteidigen wir ein Dorf mit dem Fluss im Rücken, statt uns ins günstigere Gelände zurückzuziehen?“
„Schwarm aus Nadeln“
Diese Unzufriedenheit trifft auf ein weiteres Problem: schwindende Ressourcen. Eine Kompanie mit nur noch einem Sanitäter – das ist keine Ausnahme mehr, wie der KURIER bei seinem letzten Frontbesuch erfuhr. Was die russische Motorrad-Taktik so gefährlich macht, ist ihr asymmetrischer Charakter. Sie ist billig, schnell verfügbar und schwer zu bekämpfen. „Es ist wie ein Schwarm aus Nadeln, der die Front durchlöchert“, fasst Reisner zusammen.
Und: Der psychologische Effekt ist nicht zu unterschätzen. Wer ständig mit schnellen, kaum sichtbaren Gegnern rechnen muss, verliert an Reaktionsfähigkeit – und an Moral. Die russische Motorrad-Taktik ist mehr als ein kurioses Randphänomen. Sie ist Ausdruck eines systematisch angelegten Angriffsschemas der russischen Streitkräfte, das auf Ausnutzung von Schwächen und günstiger Geografie basiert. Erst kürzlich bestellte Russland 200.000 Motorräder aus China. Für die Ukraine bedeutet das: Wenn sie nicht schneller, tiefer und koordinierter reagiert – auch mit westlicher Hilfe –, drohen weitere Einbrüche.
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