Marina Weisband: "Wir sind überfordert mit so viel Freiheit"

Marina Weisband: "Wir sind überfordert mit so viel Freiheit"
Die deutsche Ex-Piratenpartei-Politikerin sprach mit dem KURIER über Skepsis gegenüber dem Staat und Chancen für Schulen in Zeiten der Pandemie.

Sie hat das Piratenschiff verlassen, bevor es gesunken ist: Marina Weisband, einst Gesicht der jungen Digitalpartei, ist heute Psychologin, Grünen-Mitglied und Expertin für Netzpolitik und Bildung. Letztere schütze nicht vor Verschwörungsglauben, sagt Weisband – überhaupt müsse das Schulsystem neu gedacht werden. Die Pandemie sieht sie dazu als Chance.

KURIER: Der Lockdown scheint alternativlos, kommuniziert die Regierung. Die Deutschen tragen das alles mit. Die Kanzlerin hat beste Umfragewerte – schwere Zeiten für eine Oppositionspartei wie die Grünen.

Marina Weisband: Wir hätten den Sommer nutzen sollen, um mehr parlamentarische Werkzeuge zur Mitkontrolle der Maßnahmen zu haben. Es gibt ja strittige Punkte: Das penetrante Bestehen auf alternativlosen Präsenzunterricht hat uns letztlich diese Welle gebracht. Es wurden keine kreativen Lösungen erarbeitet.

Was wäre eine gewesen?

Manche Schulen haben Wechselunterricht gemacht oder Hybridunterricht – ein Teil konnte digital und auf Distanz beschult werden. Die Kultusminister haben das gebremst: Es wurde ausschließlich auf Präsenzunterricht gesetzt, es gab und gibt weiter kein Notfallkonzept für den Fall, dass Schulen schließen.

Es gab auch Kritik, die Menschen hätten sich zu wenig an Regeln gehalten. Wie kann man sie dazu bringen, Maßnahmen einzuhalten?

Im Sommer gab es das Narrativ: Corona ist vorbei. Die Fallzahlen waren niedrig, die Menschen pandemiemüde. Man hat, sobald es ging, einfach alles wieder geöffnet. Es gab weder Ziel noch Strategie. Die Kommunikation hätte so sein müssen: Wenn wir bei diesen Zahlen noch ein paar Wochen konsequent durchhalten, können wir Corona auf null reduzieren und bei jedem Ausbruch mit lokalen Lockdowns reagieren, alle anderen können normal leben.

Ihre frühere Partei hat sich für mehr direkte Demokratie eingesetzt. Sie fordern ebenfalls Bürgerräte, die bei Maßnahmen mitsprechen können.

Wir haben in Irland gesehen, dass sie zur Akzeptanz von Entscheidungen beitragen (Debatte zum Thema Abtreibung Anm.) Man vertraut dem noch mal mehr als Parlamenten, die zwar gewählt sind, sich aber aus Menschen zusammensetzen, die nicht repräsentative berufliche Hintergründe haben. Mit ihnen identifiziert man sich nicht so stark, wie mit einem gelosten Rat aus Politik-Laien, der zu einem Thema zusammenkommt und intensiv debattiert.

Aber in der Pandemie geht es auch um sehr schnelles Handeln, wie einen Lockdown zu verhängen, Intensivbetten freizubekommen …

Diese Beispiele sind für Bürgerräte nicht geeignet. Das ist Aufgabe der Regierung. Sobald es um längerfristige Strategien geht, müssen die Bürger gefragt werden. Angenommen wir diskutieren über den Stellenwert von Bildung; Was soll zuerst öffnen und was später? Bundesliga oder Schulen? Bei welchen Fallzahlen? Oder wie viel ist uns überhaupt ein menschliches Leben wert?

Was von 2020 in Erinnerung bleiben wird: Die Bilder von Anti-Corona-Protesten und Menschen, die versuchen den Reichstag zu stürmen. Waren Sie überrascht von der Eskalation?

Nein, man hat die Radikalisierung online sehr gut verfolgen können. Ich habe schon im Mai ein Video dazu gedreht, wo ich die Leute gewarnt habe, hinzugehen, weil Rechtsextreme diese Demos gezielt unterwandern und radikalisieren.

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