Lockdown in Leicester: Die Textilindustrie als Corona-Herd
Das letzte Mal, als Leicester in den Schlagzeilen war, gewannen Christian Fuchs und der Leicester FC 2016 die englische Fußball-Meisterschaft.
Diesmal ist der Anlass nicht erfreulich. Seit 30. Juni ist Leicester der erste britische Ort, in dem Lockerungen der Coronavirus-Maßnahmen rückgängig gemacht wurden.
Der Grund: Die Stadt im Herzen Englands mit etwa 350.000 Einwohnern zählte im Sieben-Tage-Schnitt 135 Neuinfektionen pro 100.000 Einwohner. Großbritannien, das von der Pandemie am schwersten betroffene Land Europas, hat keine offizielle Obergrenze für solche Fälle wie Deutschland, wo sie bei 50 liegt. Aber die Zahl in Leicester war dreimal so hoch wie die in der nächstfolgenden Stadt und machte zehn Prozent aller neuen Fälle in Großbritannien aus.
Während anderswo im Land vergangenes Wochenende Pubs und Restaurants regen Zulauf hatten, unterlag Leicester einer verschärften Ausgangssperre. Nur essenzielle Läden sind offen. Buslinien haben Fahrten aus und nach Leicester ausgesetzt. Und die Transportpolizei macht Kontrollen, um unnötige Zugfahrten zu verhindern.
Auf engem Raum
Sogar im 40-Minuten entfernten Nottingham nahmen Lokale Ausweiskontrollen vor, um Gäste aus „Lockdown Leicester“ abzuhalten. „Unsere Stadt hat die Corona-Regeln nicht ernst genug genommen“, sagt John Paul, 39, aus Leicester dem KURIER. „Den Besuch im Pub und Restaurant vermisse ich am meisten.“ Medizin-Professor Kamlesh Khunti von der Uni Leicester, der auch die Regierung berät, fasst die Stimmung so zusammen: „Es herrschen Angst und Wut.“
Boris Johnsons Regierung und Leicesters Bürgermeister von der Labour Partei schieben sich gegenseitig den Schwarzen Peter zu, warum der Anstieg der Corona-Fälle so spät erkannt wurde. Die Auslöser sind auch nicht ganz klar: Experten weisen auf hohe Armut, überfüllte Wohnbezirke und mangelnde Corona-Information für Minderheiten – vor allem südasiatischer, afrikanischer und osteuropäischer Herkunft – in ihren Muttersprachen hin.
„Leicester ist die erste britische Stadt, in der 50 Prozent der Leute nicht weiß sind“, erklärt Khunti. „Das bedeutet auch Entbehrung und Familien mit mehreren Generationen auf engem Raum. Und manche ethnische Gruppen kennen soziale Distanzierung in ihrer Kultur nicht.“
„Leicester kleidet die Welt ein“
Das war einst das Motto der Textilindustrie im zentralbritischen Leicester
Unzumutbare Zustände
Fabriken heuern auch in der Krise illegale Arbeiter an, ignorieren Corona-Regeln und zahlen oft nur 3,50 Pfund (3,90 Euro) pro Stunde, weit unter dem Mindestlohn von 8,72 Pfund
Neue Infizierte
Leicester zählte 135 Neuinfektionen pro 100.000 Einwohner. Zum Vergleich: In Linz-Land waren es 98 pro 100.000 binnen der letzten 14 Tage
Besorgniserregender Zustand in Fabriken
Die Textilindustrie – „Leicester kleidet die Welt ein“ war früher ein Motto – und ihre teils veralteten Arbeitsbedingungen werden auch als Faktor gesehen. Laut einer Sunday Times-Reportage stellen Fabriken auch in der Krise illegale Arbeiter an, ignorieren Corona-Regeln und zahlen manchmal nur 3,50 Pfund (3,90 Euro) pro Stunde, weit unter dem Mindestlohn von 8,72 Pfund. Innenministerin Priti Patel sprach von „Sklavenarbeit“.
Die britische Behörde zur Verbrechensbekämpfung ermittelt jetzt. Und Abnehmer wie der „Fast Fashion“-Riese Boohoo wollen die Situation prüfen.
„Aber schon vor der Covid-19 Krise war der Zustand mancher Fabriken besorgniserregend“, sagt Meg Lewis von der Aktionsgruppe „Labour Behind The Label“, sie fordert „tiefgehende Maßnahmen“. Laut Khunti sind solche auch bei der Aufklärung nötig. Er weiß, dass lokale Organisationen jetzt verstärkt zusammen arbeiten, um Informationen für alle Bewohner Leicesters „kulturell angemessen“ zugänglich zu machen. Broschüren werden etwa vermehrt in Hindi, Punjabi und Urdu übersetzt. John Paul hat am Mittwoch von seinem Arbeitgeber ein Corona-Flugblatt in acht Sprachen bekommen. „Die Behörden dürften die Sprachbarrieren erkannt haben“, sagt er.
Angst vor Verlängerung
Viele fürchten aber, dass die Regierung nach einer Überprüfung der Corona-Trends am 18. Juli den Lockdown bis August verlängern wird. Am Freitag verfügbare Daten zeigten 120 Neuinfektionen pro 100.000 Einwohner. Die Stadt mit der zweithöchsten Rate hatte 16.
„Die Leute sind am Boden zerstört, dass Leicester die erste lokale Ausgangssperre hat“, sagt Khunti. Er will nicht vorhersagen, wann sie ein Ende finden wird, weiß aber, was er dann macht: „In ein Pub mit Gastgarten gehen und ein Pint trinken.“
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