Linksschwenk, aber noch kein GroKo-Aus: SPD-Spitze übt Balanceakt

Juso-Chef Kevin Kühnert gehört zu den Unterstützern der neuen SPD-Doppelspitze Norbert Walter-Borjans und Saskia Esken.
Die neue Führung verspricht ihren Fans einen Linksschwenk und beruhigt Zweifler: kein sofortiges Koalitions-Aus. Juso-Chef Kühnert wird Parteivize.

Ein Geist schwebt über diesem Parteitag: Kaum ein Name wird an diesem Tag so gewürdigt, wie der von Andrea Nahles, die im Juni, nach Wahlverlusten, internen Querelen und nicht einmal 12 Monate im Amt, zurückgetreten ist. "Irgendwie wird sie es hören", ruft Malu Dreyer, die die SPD kommissarisch übernommen hat, in den Saal. Was die abwesende Nahles darüber denkt, lässt sich nur erahnen. Vielleicht sitzt sie zu Hause in der Eifel und verfolgt das Geschehen im Livestream.

"Wir haben uns nicht von der besten Seite gezeigt", räumt Generalsekretär Lars Klingbeil gleich danach ein – mit Blick auf Nahles’ Abgang und den von Martin Schulz. Noch vor zwei Jahren stand er hier auf der Bühne der Berliner Messehalle und warb für den Gang in die Große Koalition.

Heute sollen die 600 Delegierten zwei neue Parteichefs absegnen, die Schulz’ Vermächtnis sehr kritisch sehen und dafür von vielen SPD-Mitgliedern gewählt wurden: Saskia Esken (58) und Norbert Walter-Borjans (67).

Sie wird an diesem Freitag 75,9 Prozent der Stimmen bekommen, er 89,2 Prozent. Beide mussten schon in der ersten Woche um ihre Glaubwürdigkeit kämpfen: Denn alles, was zum Thema Koalition fiel, wurde von Presse wie Genossen seziert.

Saskia Esken, die das Bündnis bisher mehr als ihr Partner ablehnte, gibt sich auf der Bühne kämpferisch. Die SPD gebe der Großen Koalition eine "realistische Chance auf eine Fortsetzung" – "nicht mehr, aber auch nicht weniger". Dann dankt auch sie der abwesenden Nahles – man will am Samstag ein Sozialstaatsprogramm verabschieden, das sie auf den Weg gebracht hat. Die SPD will sich von alten Fesseln lösen – Stichwort Hartz IV und Niedriglohnsektor.

"Hört ihr die Signale?"

Ob sie sich auch aus der Koalition löst, wird an diesem Parteitag noch nicht geklärt. Nur die Frage, worüber man mit der Union noch einmal sprechen will: einen höheren Mindestlohn, mehr Klimaschutz und Investitionen. Von diesen Gesprächen will man letztlich den Verbleib in der Großen Koalition abhängig machen. Die Delegierten stimmen am späten Abend mit einer übergroßen Mehrheit dafür.

Zuvor holt Esken noch ihren Partner Norbert Walter-Borjans zu sich auf die Bühne und ruft in den Saal: "Hört ihr die Signale? Die neue Zeit, sie ruft". Die Menschen stehen auf und klatschen. Die SPD erlebt wieder einen euphorischen Moment. Was Schulz, einst 100-Prozent-Kandidat, gerade denkt? Er sitzt in der ersten Reihe und applaudiert.

Die Erwartungen an das neue Duo sind hoch. Dass sie von der Basis gewählt wurden, hilft ihnen etwas. Sie sind frei vom Geruch der Hinterzimmerkungelei, die ihre Vorgänger laut Kritiker umwehte. Gleichzeitig haben bei der Mitgliederbefragung nur 54 Prozent mitgemacht.

Um eine Spaltung zu verhindern, stoppt man noch am Vormittag eine Kampfkandidatur um die Partei-Vizeposten zwischen Juso-Chef Kevin Kühnert, der die Neuen offen unterstützt, und  Arbeitsminister Hubertus Heil. Nun soll Platz für beide und drei weitere sein.

Kühnert wird Parteivize

Die Delegierten reißt jedenfalls der 30-Jährige nach fast neun Stunden Parteitag von den Sitzen – mit einer grundsätzlichen Rede und roten Socken in der Hand als Zeichen für jene, die der SPD linke Spinnereien attestieren. Er drehte sie um und sie wurden blau – die Farbe der AfD. Die wäre das eigentliche Problem und nicht die SPD, so die Botschaft. Er bekommt dafür tosenden Applaus, Standing Ovations und 70,4 Prozent – Minister Heil 70 Prozent. Dass ein Juso-Chef Parteivize wird, gab’s noch nie. Kühnerts Anhänger hoffen, dass er den SPD-Kurs stark prägen wird. 

Laura und Lukas, zwei Mitglieder der Nachwuchsorganisation, stehen draußen im Foyer beim Juso-Stand – "Zeit für Kevin" steht dort auf einem Plakat. Er soll der neuen Spitze künftig "Schützenhilfe" leisten, hofft Lukas. Seine Genossin setzt darauf, dass das Duo künftig weniger aus Koalitionszwang handelt, sondern mehr auf die Partei schaut. Die Voraussetzungen seien gut, beide nicht Teil des Willy-Brandt-Haus-Establishments, findet sie.

Inhaltlich wird sich zeigen, wie viel Spielraum sie dort haben. Walter-Borjans kritisierte die von Parteignossen und Finanzminister Olaf Scholz verteidigte "schwarze Null" und sprach sich für einen linkeren Kurs aus, den im Saal viele beklatschen. "Wenn es links ist, das Auseinanderdriften der Gesellschaft zu bekämpfen, dann machen wir als Partei einen ordentlichen Linksschwenk." Inwiefern sie diesen vollziehen können, werden die nächsten Monate zeigen – bloß nicht schnell wieder Geister werden.

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