Lenins Geburtstag: Die Rechte auf immer zur Faust geballt
Von: Jana Patsch
In den Zeiten des Kommunismus war es für Moskau-Besucher aus dem Ostblock eine Verpflichtung, Lenin in seinem Mausoleum die Aufwartung zu machen. Auch ich reihte mich 1965 in die Warteschlange, die vom Roten Platz bis zum Alexander-Garten reichte, um den Anführer der Oktoberrevolution und Gründer der Sowjetunion zu sehen. Die UdSSR war damals meine erste große Reise, weil ich als Bürgerin der Tschechoslowakei nicht in den Westen fahren durfte.
Für viele Sowjet-Bürger war es die Erfüllung eines Traums, den Leichnam jenes Mannes mit eigenen Augen zu sehen, der die Welt nachhaltig verändert hatte. Die unzähligen Opfer seiner „Diktatur des Proletariats“ und die Hunderten Millionen von Menschen aufoktroyierte Weltanschauung des „Leninismus“ waren in diesem Moment vergessen. Schweigend harrten die Menschen stundenlang aus. Nur langsam bewegte sich die Schlage vorwärts. Um Punkt elf Uhr wurde sie von einem Milizionär angehalten, dann hatten Ausländer den Vortritt.
„Sakrit“ (zumachen), zischte mich ein Wachoffizier beim Eintreten an, weil meine Handtasche offenstand. Die klimatisierte Grabkammer war nur mäßig ausgeleuchtet und wirkte auf mich gruselig. Plötzlich lag Lenin vor mir, in einem schwarzen Anzug mit gepunkteter Krawatte, die rechte Hand leicht zur Faust geballt, so wie ich ihn von tausenden Abbildungen kannte.
Tausende Denkmäler
Nach seinem Tod am 27. Jänner 1924 wurde um Lenin – entgegen seiner eigenen Verfügung – ein enormer Personenkult entfesselt. Allein in der UdSSR wurden rund 40 Städte nach ihm umbenannt: Leningrad, Leninakan, Leninabad usw. Für Wladimir Iljitsch Uljanow, genannt Lenin, wurden im ganzen Sowjetblock tausende Denkmäler errichtet, seine Bilder waren omnipräsent.
Besonders populär wurde ein Lenin-Plakat mit dem religiös anmutenden Satz des Dichters Wladimir Majakowski: „Lenin hat gelebt, Lenin lebt und Lenin wird leben.“ Im übertragenen Sinn ist der Revolutionsführer tatsächlich bis heute „unsterblich“ geblieben. Denn sein aufwändig konservierter Leichnam liegt seit bald 100 Jahren an der Kremlmauer im Herzen Moskaus.
Als Lenin verstarb, war es selbst für Moskauer Verhältnisse extrem kalt. Die Moskowiter zimmerten in großer Eile mitten auf dem Roten Platz eine Holzbaracke zusammen, um den eben verstorbenen Revolutionär dort aufzubahren. Die Schlange der Trauernden und Schaulustigen riss etliche Tage und Nächte lang nicht ab. Temperaturen unter minus 40 Grad sorgten für eine natürliche Konservierung Lenins. Die Bestattung wurde immer wieder verschoben. Bis die KP-Spitze beschloss, Lenins Leiche einzubalsamieren und in einem Glassarg wie Schneewittchen auszustellen.
Die Proteste seiner Ehefrau Nadeschda Krupskaja verhallten ungehört. Lenin selbst wollte angeblich neben seiner Mutter Maria Uljanowa auf dem Wolokowo-Friedhof im damaligen Petrograd begraben werden. Ich habe dieses Grab besucht, und tatsächlich wurde links zwischen der Ruhestätte der Mutter und der ihrer Lebensgefährten ein Platz freigelassen, rechts von ihr liegen Lenins Schwestern.
Doch Lenins Studienkollege und späterer Gegenspieler Josef Wisarjonowitsch Dschugaschwili, vulgo Stalin, setzte sich durch: Lenins Mumie blieb in Moskau. Nach einem zweiten Holz-Provisorium wurde 1930 das noch heute bestehende Mausoleum aus feinen, schwarzen Labradorsteinen und dunkelrotem Granit errichtet.
Die Grabstätte wurde eine der wichtigsten Sehenswürdigkeiten Moskaus und eine Art Wallfahrtsort, der organisierte Pilgerfahrten aus allen Provinzen anzog. Zwischen 1953 und 1961 lag Stalins Leiche neben Lenin. Im Zuge der Entstalinisierung wurde der Diktator jedoch still und heimlich weggeschafft und in einem Ehrengrab an der Kreml-Mauer beigesetzt, wo auch andere KP-Granden wie Leonid Breschnew oder der Kosmonaut Juri Gagarin bestattet sind. Auf Stalins Grab liegen auch heute noch stets rote Nelken. Seine Umfragewerte sind höher als jene Lenins.
Teure Pflege
Seit dem Zerfall der Sowjetunion werden immer wieder Forderungen laut, auch Lenins Mumie endlich unter die Erde zu bringen. Vor allem die russisch-orthodoxe Kirche, aber auch viele Menschenrechtler, würden das Mausoleum gerne schließen. Nicht nur aus Gründen der Pietät, sondern auch wegen der hohen Kosten. Die Pflege von Lenins Leichnam, der regelmäßig in speziellen Lösungen gebadet wird, wurde 2005 mit 1,5 Millionen Dollar beziffert. Die Kommunisten sind gegen die Schließung.
Präsident Wladimir Putin hielt sich lange aus dem Streit heraus. Kürzlich erklärte er aber, Lenin solle im Mausoleum bleiben: „Es gibt noch immer viele Menschen in Russland, die große Teile ihres Lebens und gewisse Errungenschaften der Sowjetunion mit ihm verbinden.“ Solange das so sei, solle sich nichts ändern. So bleibt das Mausoleum bis auf Weiteres jeden Dienstag, Mittwoch, Donnerstag und Samstag von 10 bis 13 Uhr geöffnet.
Ich selbst habe das Mausoleum zwischen 1965 und September 2019 insgesamt vier Mal besucht: Lenin hat sich in diesen mehr als 50 Jahren nicht verändert.
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