Philosophin Lea Ypi: "Die Verteidiger der EU stecken in den 90ern fest"
Bekannt wurde die albanisch-britische Philosophin Lea Ypi, Professorin für Politische Theorie, mit ihrem autobiografischen Buch "Frei: Erwachsenwerden am Ende der Geschichte" über ihre Kindheit im autoritären, kommunistischen Albanien. Heute warnt sie vor dem Ethnonationalismus der Rechten, vor einem freiheitseinschränkenden Kapitalismus und davor, das autoritäre Russland zu isolieren.
KURIER: Sie sprechen sich gegen eine Isolation Russlands aus – eine provokante Meinung.
Lea Ypi: Russland ist kein kohärenter Block, genauso wenig wie Europa. Es gibt viele Widersprüche innerhalb des Landes. Eine Isolation birgt das Risiko, progressive und kritische Elemente zu unterbinden und zu antagonisieren. Ich bin vielmehr der Meinung, dass Europa die Aufmerksamkeit auf die prorussischen Kräfte innerhalb Europas lenken sollte, denen eine Isolation Russlands für die eigene Erzählung am meisten nutzen würde. Wir sollten uns darüber Sorgen machen, wie Demokratien bereits untergraben werden – durch ethnonationale, rückwärtsgewandte, autoritäre Sichtweisen.
Argumentieren Sie auch aufgrund Ihrer eigenen Erfahrungen im kommunistischen, autoritären Albanien so?
Kulturelle Boykotte, von Universitäten, Musik, Kultur halte ich für schädlich. Das sind die kritischsten Räume einer Gesellschaft. Wenn man diese Institutionen isoliert, sägt man an dem Ast, auf dem man sitzt. Gleichzeitig berauben wir uns selbst eines Zugangs darüber, was in der Gesellschaft vor sich geht.
In Ihrem jüngst erschienenen Buch "Aufrecht" zitieren Sie Ihre Großmutter, die sich trotz ihres Lebens in einem autoritären Regime nie unfrei gefühlt hat. Was verstehen Sie unter Freiheit?
Freiheit ist das, was wir durch moralische Verantwortung erfahren. Sie ist die Fähigkeit, moralisch zu handeln, die Fähigkeit zur Reflexion, unsere Vernunft zu verwenden. Die Essenz des Menschseins. Anders als Tiere, die nach ihren Trieben leben – sie essen, wenn sie hungrig sind, sie schlafen, wenn sie müde sind –, können wir pausieren und darüber nachdenken, was wir tun.
Ist es nicht sehr einfach, Freiheit so zu definieren, wenn man in einem demokratischen Land lebt? Was sagen Sie jenen, die in einem autoritären Staatssystem leben?
Diese Fähigkeit zu haben, ist das eine. Institutionen, die ermöglichen, dass man sie ausleben kann, etwas anderes. Ich denke aber nicht, dass das nur für Autokratien gilt. Auch in demokratischen Staaten gibt es Einschränkungen, wenn der Staat, Parteien, die Kirche oder eine andere ideologische, autoritäre Struktur Macht ausübt. Politische Autoritäten können unsere moralische Handlungsfähigkeit negativ einschränken, wenn sie falsche Anreize setzen, beispielsweise wenn politische Parteien ihre Wähler wie Konsumenten behandeln.
Weltweit stehen Demokratien unter Druck. Was sehen Sie als größte Bedrohung?
Den Aufstieg von Ethnonationalismus und die rechte Kritik an der liberalen Demokratie. Rechte Parteien nutzen die Unzufriedenheit mit dem Status quo, die in Fehlentwicklungen der Globalisierung wurzelt. Sie identifizieren eine Bedrohung, aber diagnostizieren sie falsch – nämlich als Bedrohung, die auf fremde Identitäten zurückgeführt wird.
Dabei wird stets der Linken vorgeworfen, sich auf Identitätspolitik zu fokussieren.
Das Problem der Linken ist nicht so sehr, dass sie Identitätspolitik betreibt, sondern dass sie das rechte Verständnis von Identität annimmt. Sie argumentiert nur mehr auf Basis von Identität, ohne ein größeres, intersektionales Verständnis dafür zu schaffen, wo Unterdrückung herkommt und wie sie mit der Entwicklung der Globalisierung verbunden ist. Die Linke hat die Kritik am Kapitalismus verloren, ebenso wie Kritik an einer Politik, die sich auf Unterdrückung stützt.
Die Rechte wiederum kritisiert nie den freien Markt und seine Fehler, sondern die Menschen, die anders sind. Migranten werden für die Fehlentwicklungen multinationaler Institutionen verantwortlich gemacht. Diesem Narrativ laufen linke Parteien hinterher – und stärken damit rechte Parteien. Denn die Wähler erkennen immer den Unterschied zwischen Original und Kopie.
Ypi war auf Einladung der ERSTE Stiftung und des Instituts von den Wissenschaften für den Menschen (IWM) beim "Time to Decide Europe Summit" in Wien.
Trotzdem verteidigen Sie internationale Organisationen, während diese an Unterstützung und Ansehen verlieren. Ist die Zeit universell geltender Werte vorbei?
Das ist das, was die rechte Seite sagt. Doch was wäre die Alternative? Eine Welt, zerbrochen in Nationalstaaten, in denen jeder versucht, sein Land wieder "great" zu machen? Wie das allen Ländern gleichzeitig gelingen soll, ohne in einen globalen Krieg zu geraten, wird verschwiegen. In so einer Welt gibt es keinen Frieden und Gerechtigkeit.
Wir dürfen Kritik an Organisationen wie den UN oder der EU nicht den Rechten überlassen. Wir müssen darüber nachdenken, wie wir sie so verändern können, sodass sie demokratischer agieren. Aber die, die die EU verteidigen, sind zu status-quo- und vergangenheitsorientiert. Und sie hängen an den 1990er-Jahren, in der die EU noch geliefert hat, obwohl die Spannungen bereits damals ersichtlich waren.
Albanien sitzt seit 2014 auf der Wartebank der EU. Halten Sie einen baldigen Beitritt für realistisch?
Über 90 Prozent der Albaner sind nach wie vor für die EU. Es ist genau dieses Nicht-in-der-EU-Sein, das diese Liebe kultiviert. Da ist diese großartige Gesellschaft des Friedens, des Wohlstands, der Gerechtigkeit. Diese romantische Phase ist eigentlich der beste Zustand für ein Land wie Albanien. Wenn man erst in der EU ist, merkt man, dass sie die innerstaatlichen Probleme nicht lösen kann.
Diese Erwartungshaltung birgt allerdings die Gefahr, enttäuscht zu werden, was Rechte für sich zu nutzen wissen. Das sieht man in Ungarn, in Rumänien, in all den osteuropäischen Staaten, bei denen sich zeigte, dass der EU-Beitritt nicht die Lösung für ihre Probleme war.
Lea Ypi ist derzeit eine der gefragtesten Autorinnen in Europa. Die albanisch-britische Professorin für Politische Theorie lehrt in London an der LSE und hielt im Frühling die Eröffnungsrede der Wiener Festwochen. Geboren 1979 in Tirana, erschien 2022 das autobiografische Buch "Frei: Erwachsenwerden am Ende der Geschichte" (Suhrkamp), ihr neues Buch "Aufrecht. Überleben im Zeitalter der Extreme" (2025, Suhrkamp) handelt von dem Leben ihrer Großmutter zwischen Osmanischem Reich und kommunistischem Albanien. Ypi war auf Einladung der ERSTE Stiftung und des Instituts von den Wissenschaften für den Menschen (IWM) beim "Time to Decide Europe Summit" in Wien.
Sie nennen sich Sozialistin. Welche Reaktionen bekommen Sie darauf?
In Albanien sind die Menschen perplex, weil sie Sozialismus mit ihrer eigenen Geschichte verbinden. Im Westen kommt es darauf an, mit wem ich spreche. Sozialismus ist der Ursprung des Staatssozialismus und der Sozialdemokratie, die beide auf ihre Weise gescheitert sind. Der Sozialismus, über den ich nachdenke, ist ein transnationaler, ein post-nationalstaatlicher, der versucht, sich mit den Fehlern dieser Systeme auseinanderzusetzen und eine Alternative zum Kapitalismus zu entwickeln.
Gleichzeitig verteidigen Sie Kants Liberalismus.
Der wichtigste Grundsatz des kategorischen Imperativs ist, andere Menschen nicht nur als Mittel zu behandeln, sondern als Zweck an sich. Der Kapitalismus ist ein ökonomisches System, in dem Menschen als Mittel zu einem Zweck behandelt werden: Profit. Kapitalismus ist das genaue Gegenteil dieses kantischen Grundsatzes. Er untergräbt die moralische Verantwortung, den Kern der Menschlichkeit.
In New York hat Zohran Mamdani als demokratischer Sozialist die Bürgermeisterwahl gewonnen. Brauchen Linke heutzutage extreme Etiketten, um gegen rechts zu siegen?
Es ist wichtig, dass eine linke Kraft zurückgekehrt ist, die über sozioökonomische Themen wie Lebenserhaltungskosten spricht, und sich nicht durch Identitätspolitik ablenken lässt. Mamdanis Kampagne vereinte unterschiedliche Identitäten, weil sie sich auf sozioökonomische Kritik der Globalisierung stützt. Aber er agiert als sozialistischer Bürgermeister in einem ultrakapitalistischen Land. Und es besteht die Gefahr, dass, wenn man sich diesen Grenzen nicht bewusst ist, das Projekt delegitimiert wird. Ich sehe seinen Sieg eher als symbolischen Erfolg anstatt etwas, das wirklich den Weg ebnet für eine sozialistische Welt.
"Aufrecht" von Lea Ypi, 2025, Suhrkamp.
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