Daniel Cohn-Bendit: "Die Mitte muss einen Kompromiss finden"

Altersmilde? „Dany le Rouge“ appelliert mit 80 Jahren an die Mitte-links-Parteien, kompromissbereiter mit der rechten Mitte zusammenzuarbeiten.
KURIER: In Frankreich, Deutschland und Großbritannien liegen die Rechtspopulisten in den Umfragen vorne. Oft wird den linken Parteien mit ihrem „Moralisieren“ und „Identitätskampf“ Mitschuld gegeben. Stimmt das?
Daniel Cohn-Bendit: Eine Verantwortung liegt sowohl auf der linken als auch der rechten Mitte. Es herrscht die Wahrnehmung vor, dass beide nicht fähig sind, die Probleme der Gesellschaft anzupacken. Es ist richtig, dass die linke Mitte in der Identitätsfrage untergehen kann. Das war bei einem Teil der Demokraten vor der US-Wahl der Fall. Diese gesellschaftlichen Fragen muss man behandeln, aber darf die anderen Probleme nicht übersehen.
Welche sind das?
Die aktuellen Probleme sind komplex: Seit der Corona-Pandemie ist die Gesellschaft verunsichert, dazu kommen Klimawandel, Einwanderung, die globale Lage. Einfache, radikale Antworten sind angenehm: Der Klimawandel existiere nicht; man müsse nur die Grenzen schließen, dann hätten wir das Migrationsproblem gelöst. Farage, Le Pen, die AfD, sie negieren die Komplexität. Was die Mitte-Parteien angeht, herrscht das Gefühl vor, sie beantworten unsere Ängste nicht.
Ist das nur Wahrnehmung, oder schaffen sie es wirklich nicht?
Man muss, und das ist das Schwierigste, genau überlegen, was man der Gesellschaft zumuten kann. Den Fehler haben die Grünen in der Ampelregierung gemacht: Sie entwarfen die richtigen Dinge bis zum Heizungsgesetz, haben die Gesellschaft aber nicht vorbereitet, sodass es leicht war, sie zu denunzieren. Heute laufen die notwendigen Anschaffungen zum Heizungsgesetz.
Protestanführer, Kindergärtner, Buchhändler, Herausgeber eines linken Sponti-Magazins, Stadtrat, mit Joschka Fischer gemeinsam „Realo“ bei den deutschen Grünen und zwanzig Jahre Mitglied der Grünen Frankreichs und Deutschlands im Europaparlament. Mit dem Politologen Claus Leggewie präsentiert er am Montag im Bruno-Kreisky-Forum in Wien sein Buch „Zurück zur Wirklichkeit“, ein Appell an „politische Freundschaft“.
Linken Parteien wird auch vorgeworfen, die Überforderung der Bevölkerung in der Migrationsfrage zu ignorieren.
Unsere Gesellschaft braucht Einwanderung und Arbeitskräfte aufgrund der demografischen Entwicklung. Gleichzeitig fühlen sich die Menschen vielerorts nicht mehr zu Hause. Die linke Mitte darf nicht nur humanistisch argumentieren, indem sie sagt, wir haben eine Menschenrechtsverpflichtung. Wir brauchen einen rationalen Diskurs und müssen trennen zwischen Flüchtlingen und Migranten, die ein besseres Leben wollen, was nicht verwerflich ist. Es gibt einen Flüchtlingsrechtsmissbrauch, weil es kein richtiges Einwanderungsgesetz gibt. Das muss man organisieren.
In Frankreich sind die Sozialisten von Ex-Präsident Hollande nur mehr Anhängsel des Bündnisses mit der extremen Linken, La France insoumise (LFI). Was ist da passiert?
Wenn die Sozialisten mit LFI weiter ihr Schicksal verbinden, sind sie verloren. Ich glaube, dass sich die reformistische Linke von der aberwitzigen, teils totalitären, radikalen Linken trennen muss. Diese hat eine Idee der Umwälzung der Gesellschaft, die dem reformistischen Ansatz widerspricht. Dazu kommen unklare, zum Teil antisemitische Positionen der radikalen Linke, was Israel und Palästina betrifft.
Obwohl sie bei den vorgezogenen Parlamentswahlen als gemeinsames Bündnis triumphiert haben?
Es ist ein Erfolg zum Untergang. Die Aussicht ist nicht, dass die Sozialisten mit LFI gewinnen, sondern der Sieg von Le Pen. Die reformistische Linke muss mit der reformistischen Mitte einen regierungsfähigen Kompromiss bilden, der Frankreich aus der Krise führt. In Anbetracht dessen, was in der Welt passiert – China organisiert eine Koalition der autoritären Oligarchien gegen den Westen, Trump und Netanjahu organisieren den Zusammenbruch der Demokratien ohne Perspektiven für die Palästinenser –, müssen wir unsere Vorstellung von Demokratie gemeinsam verteidigen.

Bekannt wurde der Deutsch-Franzose als Revoluzzer der 68er.
So eine Kompromissregierung gab es in Deutschland jahrzehntelang, gibt es jetzt wieder, und die Zustimmung zur AfD sinkt trotzdem nicht.
Merz ist gewählt worden mit radikalen Versprechen, jetzt übernimmt er zwei Drittel des Programms von Robert Habeck. Er müsste sich hinstellen und sein Tun erklären, sonst ist man nicht glaubwürdig. Die Mitte-Parteien haben ein Glaubwürdigkeitsproblem, nicht die Populisten. Die behaupten einfach Dinge, solange sie sie nicht durchführen können.
Die CDU muss sagen: Wir brauchen organisierte Einwanderung und eine Form von Solidaritätsbeitrag der Wohlhabenden zum Erhalt unseres Sozialstaats. Die linke Mitte muss akzeptieren, dass es ein härteres Vorgehen gegen den Missbrauch des Bürgergelds braucht sowie Sicherheitsmaßnahmen gegen Kriminalität, die auch Einwanderer betrifft. In Frankreich müssen Macrons Anhänger akzeptieren, dass es eine Solidaritätsabgabe braucht, und die Linken, dass es kein Zurück zur Rente mit 62 Jahren gibt.
Und wie schaffen Labour und Tories wieder den Aufstieg?
Kein Versprechen des Brexit ist wahr geworden: Die Beiträge für Europa sollten in die Gesundheit investiert, die Souveränität wiedererlangt, die Einwanderer eingedämmt werden. Auch in Großbritannien plädiere ich an Mitte links und Mitte rechts, Handlungsfähigkeit zu beweisen und einen historischen Kompromiss zu bilden. Das ist keine Utopie für Großbritannien. Es gibt Dinge, die man irgendwann lernen muss.

Cohn-Bendit im Juni 2024 in Paris.
Liegt es vielleicht auch am Zeitgeist, an einer individualisierten Gesellschaft, dass linke, solidarische Vorstellungen weniger fußen?
Es ist natürlich anders als in den 60er-Jahren, damals war die Gesellschaft im Aufbruch. Man konnte das Unsinnigste zusammenspinnen. Heute ist die Gesellschaft blockiert, verängstigt. Es ist schwieriger, Solidarität herzustellen.
Gibt es also demnach überhaupt eine Wählerschaft für mehrheitsfähige, linke Vorstellungen oder bleiben nur mehr die Ränder?
Es gab nie eine homogene Wählerschaft. Es braucht Programme, Vorstellungen, Personen, die Widersprüchen zusammenbringen. Eine linke Mitte muss alle Menschen ansprechen, die den Willen haben, aus dem aus dem Dilemma, in dem wir uns befinden, rauszukommen. Diese Menschen muss die linke Mitte zusammenführen.
Herr Cohn-Bendit, woher nehmen Sie Ihre Energie?
Schimon Peres, der Präsident von Israel, wurde einmal von einem Journalisten gefragt, sind Sie Optimist oder Pessimist? Peres hat eine Minute nachgedacht. Dann hat er gesagt: Pessimismus nützt nichts.
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