Boehm habe „die wohl größte Debatte ausgelöst, die es hier je gab“, sagte Festwochen-Chef Milo Rau vor Beginn der Rede, offenbar zufrieden damit, wenn auch nicht ganz klar war, welchen Kontext er da zog. „Lassen Sie die Eier bitte da, wo sie hingehören“, sagte er in Bezug auf Ariel Muzicant. Der hatte im KURIER gesagt, wenn er jünger wäre, hätte er wegen der Rede „Eier geworfen“.
Proteste
Eier gab es keine, aber Proteste. Eine kleine Gruppe an Menschen hielt Schilder hoch, die etwa die Befreiung Gazas von der Hamas forderten oder mit „Varoufakis und Ernaux machen Wien unsicher“ auf die umstrittenen zwei Mitglieder des „Rats der Republik“ der Wiener Festwochen anspielten: „Shame on you, Wiener Festwochen“, hieß es. Aber es gab auch Kritik am Vorgehen Israels: „Waffenstillstand jetzt“, forderte ein Plakat.
Auf dem Haus der jüdischen Misrachi-Bewegung, in dem eine Synagoge und eine Zweigstelle des Jüdischen Museums Wien untergebracht ist, hing ein Transparent, auf das Boehm Bezug nahm. „Die Dämonisierung Israels ist Antisemitismus“, stand darauf zu lesen. „Dem stimme ich zu, das ist genau das, was es ist. Niemand hier will Israel dämonisieren.“
Er unterscheide aber „legitime Kritik“ von dieser Dämonisierung.
Es geht um die Würde
In seiner Rede entwickelte Boehm vom Begriff der universalen Menschenwürde in der Tradition Immanuel Kants her seine Utopie. Dass „die Würde des Menschen unantastbar“ ist, werde zwar zunehmend auch von der Linken und der liberalen Linken abgelehnt. Boehm gestand auch zu, dass die Würde des Menschen verletzt werde, während er spreche – das zeigen die Fotos der immer noch festgehaltenen israelischen Geiseln, die auf einem Plakat der Protestierenden zu sehen waren. „Man könnte denken, dass die Realität diesen Satz zum Mythos macht, und die Poesie dieses Satzes in Kitsch verwandelt“, sagte er in seiner auf Englisch gehaltenen Rede – auch in Bezugnahme auf das Leid der palästinensischen Bevölkerung.
Er selbst jedoch betonte, dass diese Würde als unantastbar gedacht werden muss – und dass daher sowohl die Gesetzgebung als auch die nationale Souveränität nur relativ zu dieser Würde gedacht werden könne. Und dass Europa hier ein leuchtendes Beispiel sei. Denn dem Kontinent sei gelungen, als Antwort auf das Zerfallen der großen Reiche nicht Nationalstaaten zu errichten, sondern „den Nationalismus zu hinterfragen“. In Europa muss man nicht „das richtige Blut oder die richtige Sprache“ für Staatsbürgerschaft haben, sagte er. Das sei die beste Antwort auf die wichtigste Frage der Menschheit.
Diese Antwort gelte aber für die Europäer nicht dort, wo Europa einst Kolonien hatte, und insbesondere nicht in Israel, dem Westjordanland und dem Gazastreifen. Dort wurde nationalstaatliche Souveränität nicht überwunden, sondern als Befreiung angesehen. Für die Juden ging es um die Errichtung eines „souveränen jüdischen Staates. An diesem Punkt der Geschichte war das alles andere als falsch“, betonte Boehm.
Nun sei man an einem Punkt angelangt, wo die Logik der Nationalstaaten auch dort überwunden werden müsse. Und eben, das sagte er nicht, aber das war mitgedacht, eine gemeinsame Föderation von Israelis und Palästinensern zu denken. Warum solle „Europas erfolgreiche Antwort auf die eigene Geschichte nicht auch die Antwort für die Opfer der Kolonien sein?“, fragte er. „Und wenn sie das nicht ist – was sagt das über Europa?“
In seiner Rede übte Boehm mehrfach Kritik am griechischen Ex-Finanzminister Yanis Varoufakis, den Rau in seinen Rat eingeladen hat, und an der zustimmenden Reaktion vieler Studierenden auf den Hamas-Terror.
Er sei Unterstützer einer „Demokratie für alle vom Fluss bis zum Meer“ – eine Abwandlung eines umstrittenen antisemitischen Slogans. „Mein Aufruf an Europa ist: Bestehe auf die Realität deiner Ideale!“
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